Bosniens stille Tragödie

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Minen aus der Zeit des Jugoslawienkrieges lauern noch immer in vielen Gebieten Bosniens. Die verarmte Landbevölkerung ist dabei der größten Gefahr ausgesetzt.

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Minen aus der Zeit des Jugoslawienkrieges lauern noch immer in vielen Gebieten Bosniens. Die verarmte Landbevölkerung ist dabei der größten Gefahr ausgesetzt.

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Todor Jankovi ´c kann sein Glück noch immer nicht fassen: Erst wenige Monate ist es her, dass der 62jährige Mann in der Nähe seines Hauses im bosnischen Skipovac Donji beim Holzsammeln eine Anti-Personenmine vom Typ Prom-1 aktivierte. Die Springmine ist so konstruiert, dass sie nach dem Auslösen rund einen halben Meter über dem Erdboden explodiert und im Umkreis von 100 Metern eine tödliche Splitterladung abgibt. Doch die ausgelöste Mine versagte und fiel als Blindgänger zu Boden. "Ich weiß, dass ich unfassbares Glück hatte", bemerkt Todor mit einem verlegenen Lächeln im Gesicht und einem Gläschen Rakija in der Hand. Seit er vor knapp zehn Jahren in sein Heimatdorf zurückgekehrt ist, leben er und seine Frau in unmittelbarer Nähe der unsichtbaren Gefahr. Kaum einen Meter hinter dem Grundstück markieren rote Warnschilder mit Totenköpfen den Beginn des Minenfeldes.

Unsichtbare Gefahr 20 Jahre später

Knapp zwei Jahrzehnte sind seit dem Ende des Bürgerkrieges in Bosnien-Herzegowina vergangen, doch noch immer liegen fast 120.000 Minen entlang der ehemaligen Frontlinien vergraben, dazu kommen bis zu 4000 nicht explodierte Streubomben. Während der urbane Raum mittlerweile komplett gesäubert wurde, stellt die tödliche Präsenz der Kriegsrelikte vor allem für die verarmte Landbevölkerung in den entlegenen Gebieten Bosniens eine große Gefahr dar. Unfälle sind vorprogrammiert.

"Die meisten Landbewohner sind arm und haben oft gar keine andere Wahl, als im Wald nach Brennholz und Altmetall zu suchen", erklärt Armin Mujanovic, Direktor der NGO Landmine Survivors Initiative.

Die Organisation hat es sich zur Aufgabe gemacht, Überlebenden von Landminenunfällen und Hinterbliebenen finanzielle und psychologische Hilfestellung zu leisten. "Hinzu kommt, dass die Menschen die drohende Gefahr immer wieder unterschätzen", weiß Mujanovic ergänzend zu berichten. Viele Menschen leben seit Kriegsende mit der ständigen Gefahr durch Minen, die für die meisten bereits alltäglich wurde.

Minen in allen Wäldern

"Mein Sohn Mato ist mit den Minen groß geworden", erzählt Jana Spionjak im Dorf Grebnice an der bosnisch-kroatischen Grenze. Mato wurde 1996 geboren, fast alle Wälder und unbebauten Grundstücke in dem Dorf sind durch Minen kontaminiert. In Bosnien wird bereits Kleinkindern beigebracht, auf rote Warnschilder mit Totenköpfen zu achten, in der Schule folgt dann Unterricht in Minenkunde. Dennoch ist die Gefahr stets präsent. Mato und sein Vater Joso gingen beinahe täglich vor den Wintermonaten auf die Suche nach Brennholz, welches in der kalten Jahreszeit lebensnotwendig ist. "Joso war stets vorsichtig und hat markierte Gebiete gemieden", berichtet Jana weiter. Dennoch passiert letzten September die große Tragödie. "Mein Mann löste beim Holzsammeln eine Mine aus und war sofort tot", berichtet Jana. Mato überlebt schwer verletzt mit Schrapnellen im Bein. "Der Junge befand sich hinter dem Traktor, mit dem das gesammelte Holz abtransportiert werden sollte. Sonst hätte er kaum überlebt". Grebnice liegt nahe dem Fluss Sava, der im Frühjahr 2014 von der Flutkatastrophe am Balkan stark betroffen war. Viele Minen aus dem ehemals umkämpften Grenzgebiet wurden dabei weggespült und Gebiete, die zuvor als sicher galten, mussten mittlerweile als gefährlich markiert werden.

Politik schweigt Minen tot

Seit Kriegsende waren 1732 Personen in Landminenunfälle verwickelt. Mehr als 600 starben, der Rest wurde zum Teil schwer verletzt, in den meisten Fällen mussten Gliedmaßen amputiert werden. "Im vergangenen Wahlkampf war das Minenproblem für keine der Parteien Thema", zeigt sich Armir Mujanovic besorgt. Mit den geringen, ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, versucht er mit seiner NGO Überlebenden eine neue Perspektive zu geben. "Wir errichten Gewächshäuser oder stellen landwirtschaftliche Nutzgeräte zur Verfügung", stellt Mujanovic die Hilfsprojekte, die von Fall zu Fall unterschiedlich sind, vor. Den Helfern geht es dabei nicht nur um finanzielle Wiedergutmachung, sondern um eine alternative Existenzsicherung. "Wir müssen immer wieder feststellen, dass Leidtragende bereits früher in einen Unfall verwickelt waren", erzählt Mujanovic. Es ist auch keine Seltenheit, dass in einer Familie mehrere Generationen in unterschiedlichen Unfällen Opfer von Landminen werden.

Eine der erschütterndsten Familienchroniken ist jene von Razija Aljic. Als die heute 56-jährige Frau aus Lukavica Rijeka nach dem Krieg in ihr Haus zurückkehrte, waren die umliegenden Wälder vermint. Kaum ein Jahr später stirbt ihr 19-jähriger Sohn Nedzad in der Nähe des Hauses durch eine Mine. "Es vergingen keine zwei weiteren Jahre bis zum nächsten Unfall", erzählt Razija über den Tod ihres Ehemannes. Auch er war im Wald, um Brennholz zu suchen. "Die letzte Explosion war dann so laut, dass ich sie bis in die Küche hörte", bringt Razija ihre Leidensgeschichte zu Ende. Die Detonation einer Splittermine Typ Prom-1 tötet 2011 auch noch ihren zweiältesten Sohn und dessen Schwager. Der Tod von Joso Spionjak in Grebnice war bislang der letzte fatale Unfall in Bosnien. "Noch nie hat es seit Kriegsende eine so lange Zeit ohne Unfälle gegeben", zeigt sich Sasa Obradovic vom bosnischen Mine Action Center (BH MAC) optimistisch.

Zuwenig Geld für Minenentschärfung

Die staatliche Behörde ist für die Koordination der Minenräumung im Land zuständig. "Für die Räumung der verbliebenen Minen benötigen wir jährlich 40 Millionen Euro", sagt Obradovic. Das krisengebeutelte Land, in dem die Bürokratie einen Großteil des Staatshaushaltes verschlingt, kann kaum Mittel zur Entschärfung der Minen aufbringen, geschweige denn zur finanziellen Hilfe Betroffener und Hinterbliebener. Daher ist Bosnien auf ausländische Finanzhilfen und NGOs angewiesen. Derzeit bemühen sich 33 staatliche und nicht-staatliche Organisationen in Bosnien mit der Räumung von Minen und Blindgängern.

In Skipovac Donji, dem Heimatdorf von Glückspilz Todor Jankovi´c, hat Norwegian People's Aid (NPA) Anfang April mit umfassenden Minenräumarbeiten begonnen. Knapp 103.000 m 2 landwirtschaftlicher Nutzfläche, Waldgebiete und leer stehende Häuser müssen Zentimeter für Zentimeter von den Kriegsrelikten gesäubert werden. In den flachen Bereichen kommt je nach Verfügbarkeit ein gepanzertes, ferngesteuertes Fahrzeug zum Einsatz. "Damit können wir bereits viele Minen auslösen und unschädlich machen", erläutert Amela Balic, Operation Manager von NPA. Eine Garantie, dass alle Sprengmittel vernichtet wurden, gibt es dabei aber nicht. "Das bedeutet, dass danach zuerst die Minenspürhunde und dann unsere Entminer zum Einsatz kommen", so Balic. Die perfekt gedrillten belgischen Schäferhunde suchen entlang einer pfeilgeraden Schnur jede Stelle in der Erde nach Explosivstoffen ab. "Erst wenn zwei unterschiedliche Spürhunde das Gebiet untersucht und nichts entdeckt haben, kommen die Entminer an die Reihe", erklärt Balic den weiteren Ablauf. Dieses strenge Protokoll ist aufwendig und kostenintensiv.

In den dicht bewachsenen hügeligen Waldgebieten und in sumpfigen Landschaften stellt sich erst gar nicht die Frage, ob das Minenvehikel genutzt werden kann. "Das bedeutet auch, dass die Hunde nicht eingesetzt werden können", erläutert Balic weiter. Vor allem die gefürchtete Prom-1 hat neben einer Gewichtsaktivierung einen Stolperdraht und dieser könnte von den Hunden leicht ausgelöst werden.

Heikler Job beim Entminungsdienst

Elvir Omerovic ist einer der Männer, die bei NPA im Entminungsdienst arbeiten. Der Job ist in Bosnien gefragt, vor allem wegen seiner relativ guten Bezahlung. "Seit Kriegsende waren 116 Entminer in Unfälle verwickelt, 47 von ihnen starben", weiß Amela Balic über die gefährliche Arbeit zu berichten. Omerovic ist die Anstrengung ins Gesicht geschrieben. In schwere Schutzausrüstung gekleidet tastet er mit seinem Detektor jeden Zentimeter des Erdbodens ab, immer hoch genug um keinen Stolperdraht auszulösen. Bekommt er ein metallisches Signal, legt er den Detektor behutsam hinter sich und greift zu einem langen Metallnagel. "Früher war hier die Frontlinie, daher ist alles voll mit Granatsplittern und Patronenhülsen", weiß der 40-Jährige. Immer wieder lockert er die Erde und sucht nach einem harten Widerstand, der eine Mine sein könnte. Die Arbeit ist ermüdend, dennoch darf sich Omerovic nie darauf verlassen, dass es sich bei dem Signal nur um ein ungefährliches Metallstück handelt. "Manche der Minen sind aus Plastik und haben einen sehr geringen Metallanteil", erzählt der Profi. Ein Fehler könnte lebensgefährlich sein, jedes Signal muss streng nach Protokoll untersucht werden. "Viele Unfälle bei Entminungsarbeiten entstehen durch Routinefehler und Unaufmerksamkeit", erzählt Amela Balic. Daher ist es für NPA selbstverständlich, den Männern mehr Pausen und kürzere Arbeitszeiten zuzugestehen, als es das Gesetz in Bosnien vorsieht. Nachdem Omerovic mit der Metallstange auf keinen Widerstand stößt, schaufelt er die Erde behutsam beiseite, um Gewissheit über den Ursprung des Signals zu bekommen. Am Ende war es ein Granatsplitter, doch der Mann weiß: "Nie hetzen und sich nie auf sein Glück verlassen." Geduld ist bei diesem Job lebensnotwendig.

Todor Jankovi´c weiß die Bemühungen von Norwegian People's Aid zu schätzen. "Ich wünsche mir, dass meine Enkel mich besuchen kommen und im Garten spielen. Aber wie kann ich sie hier herholen, wenn der Tod überall lauert?", fragt sich der Rentner. Doch er weiß, dass das Gebiet um Skipovac Donji möglicherweise bereits im August 2015 dank der intensiven Arbeit von NPA minenfrei sein wird. Dann gehen auch die landwirtschaftlichen Nutzflächen und die ausgebrannten Häuser an ihre Eigentümer zurück. Todor hofft, wie viele im Ort, dass danach endlich auch die Kinder und Enkelkinder der wenigen Rückkehrer kommen. "Die Zukunft gehört den Jungen", sagt Todor und denkt noch einmal daran, wie knapp er dem Tod entronnen ist. "Eigentlich müsste ich jetzt tot sein", lacht er und leert sein Glas Rakija auf einen Zug, "doch das Schicksal hat es nochmal gut mit mir gemeint".

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