Brückenschlag am Bosporus

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In Istanbul, Treffpunkt von Europa und Asien, knüpft das St. Georgs-Kolleg an tragfähigen Netzen zwischen den Kulturen.

Ein Name, eine Adresse, ein Lageplan - und dennoch so verloren: Fast eine halbe Stunde lang irrt das Taxi durch die engen Gassen, hupt Fußgänger zur Seite, hält abrupt am Straßenrand und startet nach erfolgloser Recherche zur nächsten Irrfahrt durch. Kein Polizist der Welt, kein ortsansässiger Lebensmittelhändler hat von dem Namen je gehört: Kart Çinar Sokak. Hoch oben, nahe dem Galata-Turm, soll sich die unerreichte Gasse verbergen. Diesmal, ein letztes Mal, wagt der Taxifahrer die Kurve nach rechts, poltert die steile Straße hinab, staunt, bremst - und kommt wie durch Zauberhand direkt vor dem St. Georgs-Kolleg zum Stehen.

Die Ahnungslosigkeit des Chauffeurs verblüfft: Immerhin sind in diesem Fleckchen Istanbuls ein Spital, eine Schule und eine christliche Gemeinde untergebracht - und das schon seit geraumer Zeit. Bereits seit 1303 wird die St. Georgs-Kirche urkundlich erwähnt, seit 1882 befindet sie sich im Besitz der Lazaristen. Im gleichen Jahr wird auch das österreichische St. Georgs-Kolleg als Schule und Waisenhaus für deutschsprachige katholische Kinder gegründet. Schon Jahre zuvor, 1872, beginnen Barmherzige Schwestern aus Graz in einer Baracke in nächster Nähe ihren Kampf gegen die Cholera - und eröffnen 1893 ein Kinderspital.

Heute, über hundert Jahre später, haben sich die drei Einrichtungen der St. Georgs-Gemeinde im multikulturellen Stadtviertel BeyoØglu, diesseits des Bosporus, längst etabliert. Vor allem die Schule kann über mangelnden Zustrom nicht klagen, freut sich der Direktor und Lazaristen-Superior Franz Kangler - bereits seit 25 Jahren in der Stadt am Bosporus: "Durch das laizistische System in der Türkei gibt es jetzt einen immer größeren Zulauf auf religiöse Schulen." Rund 740 Schülerinnen und Schüler, 99 Prozent davon türkischer und nur noch ein Prozent österreichischer Herkunft, bevölkern mittlerweile den verschachtelten Gebäudekomplex in der Kart Çinar Sokak 2-10. Unterrichtet von 49 österreichischen Subventionslehrern - besoldet vom heimischen Bildungsministerium, sowie von 24 türkischen Lehrern, bezahlt vom Kolleg selbst, erlangen sie nach den Vorgaben des türkischen und österreichischen Lehrplans die Matura. Und das zumeist mit Erfolg, ist Franz Kangler stolz: "Seit Jahren zählen wir zu jenen Schulen, die bei der gesamtstaatlichen Universitätsaufnahmeprüfung die besten Ergebnisse erzielen." Derlei Qualität hat freilich ihren Preis: "Wir sind leider keine Armenschule", gibt Kangler unumwunden zu. Immerhin 2.500 Euro (35.000 Schilling) betrage das Schulgeld pro Jahr.

Dafür erhalten die Schüler einen interkulturellen, interreligiösen sowie mehrsprachigen Horizont, der seinesgleichen sucht. Glasvitrinen auf dem Schulgang bezeugen diese einzigartige Melange: Die Berge Anatoliens stehen ebenso im Lehrplan wie die österreichische Vogelwelt, die türkische Politik ebenso wie der Aufbau der österreichischen Rechtsordnung. Auch der Einsatz beider Sprachen im Unterricht soll das Kennenlernen beider Völker und Kulturen erleichtern: So werden die Fächer türkische Sprache und Literatur, Islamische Religion, Ethik, Geschichte, Geographie, Heimatkunde, Soziologie, Militärkunde und Leibesübungen in türkischer Sprache unterrichtet, alle anderen Fächer, darunter Englisch, Latein, Französisch, Informatik und christliche Religion, auf Deutsch.

Auch das interreligiöse Kennenlernen wird groß geschrieben: Neben der muslimischen Mehrheit, immerhin 95 Prozent, sind auch jüdische und christliche Schülerinnen und Schüler im St. Georgs-Kolleg präsent. Die Vielfalt bricht sich selbst innerhalb der Religionen Bahn: "Ich unterrichte 22 christliche Kinder aus fünf Konfessionen", schildert die Religionslehrerin und Gemeindeleiterin Elisabeth Dörler, Schwester des Werks der Frohbotschaft Batschuns (Vorarlberg), ihren bunten Alltag in der Klasse. "Wir haben armenisch-apostolische, römisch-katholische, bulgarisch-orthodoxe, syrisch-orthodoxe und armenisch-katholische Schüler."

Und der Trend zur religiösen Erziehung nimmt zu, weiß Franz Kangler aus Erfahrung. Immer mehr türkische Eltern würden ihre Kinder aus Angst vor dem Verlust von Werten religiösen Schulen anvertrauen - neben der in türkischen Medien stets präsenten Kopftuchdebatte für Kangler ein deutliches Indiz dafür, "dass Atatürk mit seinem Laizismus übertrieben hat". Seit den umfassenden Reformen durch Mustafa Kemal Atatürk (1881 bis 1938), bei denen 1924 auch die Trennung von Religion und Staat in der Verfassung festgeschrieben wurde, ist die Verschleierung im öffentlichen Raum, etwa an Schulen und Universitäten, untersagt. Ebenso das Tragen einer christlichen Ordenstracht. Bis heute prägen Bilder und Büsten Atatürks, des "Vaters der Türken", fast alle öffentlichen Einrichtungen, Lokale und Geschäfte. Auch im Schulhof von St. Georg schweift sein bronzener Blick.

Wenn auch die Verehrung des Begründers der modernen Türkei bisweilen fast religiöse Züge anzunehmen scheint: Zu Dank verpflichtet ist man ihm in St. Georg allemal: Wurde die Schule nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs im Jahr 1919 geschlossen und die Österreicher des Landes verwiesen, so konnte man 1923 unter Atatürk wieder die Pforten öffnen. Neben Türkisch wurde auch Deutsch wieder als Unterrichtssprache eingesetzt. Kruzifixe und religiöse Bilder wurden freilich ein Jahr später - binnen Wochenfrist - aus den Klassenzimmern entfernt.

Hort der Glaubenspraxis ist bis heute einzig und allein die St. Georgs-Kirche. 1963 von Anton Lehmden, dem Maler der "Wiener Schule des phantastischen Realismus" völlig neu gestaltet, bietet sie den fünf Lazaristen und 18 Barmherzigen Schwestern sowie den Lehrern der Schule, Wirtschaftstreibenden und Touristen eine spirituelle Heimstatt. Rund 100.000 Christinnen und Christen leben heute in Istanbul, weiß Elisabeth Dörler aus ihrer mittlerweile siebenjährigen Tätigkeit als Gemeindeleiterin. Da-runter sei die armenisch-apostolische Kirche mit 65.000 Gläubigen die mit Abstand größte Gruppe. Nur 10.000 Menschen, die Mehrheit davon Ge-sandte, Unternehmer oder Lehrer, gehören der römisch-katholischen Kirche an. Allein die Herkunft und Ordenszugehörigkeit der Diözesan-oberen spricht nach Meinung Dörlers Bände: "Unser Bischof Louis Pelâtre, der Apostolische Vikar von Istanbul, ist französischer Assumptionist - und der Generalvikar, Lorenzo Piretto, ist italienischer Dominikaner."

Mühevoller Dialog

Dass christliche Seelsorge in einem muslimischen Land wie der Türkei, dem zudem vor fast 80 Jahren der Laizismus verordnet wurde, kein Honiglecken ist, weiß die Theologin zur Genüge: Nur mit Mühe seien etwa die mit Türken verheirateten christlichen Frauen zu bewegen, die eigene Religion und Spiritualität weiter zu leben. "Oft wird erst nach einem Todesfall bekannt, dass es sich um eine Christin gehandelt hat." Mit umso größerem Engagement leitet Dörler ihre Frauengruppen. Im christlich-islamischen Dialog hat die Batschunser Frohbotin schon vor ihrer Ankunft am Bosporus Erfahrungen gesammelt - in ihrer Heimat Vorarlberg. Die hohe Anzahl an Gastarbeitern, der Großteil davon aus der Türkei, machte die interkulturelle, interreligiöse Arbeit im Ländle zur vordringlichen Aufgabe.

Ob Bludenz oder Istanbul: Die Ziele des Dialogs zwischen den Kulturen - gegenseitiges Kennenlernen und Toleranz - sind ident. So sieht auch Elisabeth Dörler ihren Platz weiter als Vermittlerin zwischen den Welten. Die Herausforderung in Istanbul ist jedenfalls groß, wie schon ein Blick vom Dach des St. Georg-Kollegs offenbart: hinab auf die lautstark hupenden Taxis, über das Goldene Horn hinweg auf die geschichtsträchtige Hagia Sophia und die Silhouette der Süleymaniye-Moschee. Immerhin ist man hier in der Minderheit - in Rufweite des Muezzins.

Infos zu den St. Georgs Werken unter www.sg.edu.tr

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