Bultmann für die Politik!

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In der Theologie gab es vor einigen Jahren einen grimmigen Streit rund um das Programm der "Entmythologisierung". Der Theologe Rudolf Bultmann hatte mit diesem Schlagwort die Aufgabe eingemahnt, dass die an ein mythisches Weltbild gebundenen Aussagen der Bibel nicht wortwörtlich übernommen werden können, sondern erst ent-mythologisiert werden müssten, um für die kritisch denkenden Menschen der Moderne verständlich zu sein.

Manchmal denke ich, ein Ent-mythologisierungsprogramm wäre auch für die Politik ganz nützlich. Etwa für die Mythen, die sich in den letzten Tagen rund um das von Österreich betriebene Hinauszögern des Beginns der eu-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu ranken begannen. Es kann sich wohl nur um Mythen handeln, denn was ist in der Sache erreicht worden, was es nicht schon vorher gab? Renommierte Stimmen sprechen konsequenterweise von "Wiener Wortklaubereien" und einem "pannonischen Zwergenaufstand".

Solange Spitzenkandidaten von wahlkämpfenden Regierungsparteien freimütig bekennen, dass sie sich in der Frage des eu- Beitritts der Türkei "am gesunden Volksempfinden" orientieren und daher - wenig überraschend - ein klares Nein fordern, wird es weiterer Mythenbildung bedürfen, um von der so zu Tage tretenden Kapitulation der Politik vor der hierzulande reichlich vorhandenen Fremdenangst und Islamophobie abzulenken.

Die evangelische Theologie hat das Entmythologisierungsprogramm seit langem durchgestritten. Jetzt scheint die Politik dran, damit sie zu ihrer eigentlichen Aufgabe zurückkehren kann, die nicht darin besteht, das gesunde Volksempfinden zum Maßstab des Handelns zu machen, sondern die Zukunft des gemeinsamen Europa verantwortungsvoll zu gestalten und meinungsbildend voranzugehen.

Der Autor ist Oberkirchenrat der Evangelischen Kirche A.B.

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