Christ sein in der SS?

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Über Kurt Gerstein, dem Rolf Hochhuth in "Der Stellvertreter" ein Denkmal gesetzt hat.

Und dann hat er mich in seine Wohnung mitgenommen und mir alles erzählt, erinnert sich Herbert Eickhoff an seinen Freund Kurt Gerstein: "Herbert, wir dürfen diesen Krieg nicht gewinnen." Und ich dachte: "Wieso sagst du mir das? Ich fahr doch gleich wieder an die Front, wo ich mich vielleicht für diesen blöden Hitler erschießen lasse." Aber dann hat er mir das alles erzählt, was da lief in den Konzentrationslagern. Eine grausige Bestätigung für das, was er geahnt habe, sagt Eickhoff heute.

ss-Obersturmführer Kurt Gerstein war einer der ersten, der detaillierte Berichte aus den Konzentrationslagern weitergab: an Freunde, an leitende Kirchenmänner, an Ausländer. Bei einer Dienstreise nach Majdanek, Belzec und Treblinka im August 1942 hat Gerstein eine Vergasung mit Dieselabgasen miterlebt, die er in seinem schriftlichen Bericht später so beschrieben hat: Nach zwei Stunden 49 Minuten - die Stoppuhr hat alles wohl registriert! - springt der Diesel an. Bis zu diesem Augenblick leben die Menschen in diesen vier Kammern, viermal 750 Menschen in viermal 45 Kubikmeter! - Von neuem verstreichen 25 Minuten. Richtig, viele sind jetzt tot. Man sieht das durch das kleine Fensterchen, in dem das elektrische Licht die Kammer beleuchtet. Nach 28 Minuten leben nur noch wenige. Endlich nach 32 Minuten ist alles tot!

Dem schwedischen Diplomaten Göran von Otter vertraute sich Gerstein im Zug an, als er von seiner ersten Dienstreise zu den Vergasungsöfen zurück kam. Von Otter erzählte nach dem Krieg davon: Ich bot ihm eine Zigarette an. Er dankte, gab Feuer und fragte im gleichen Atemzug, ob er mir eine schlimme Geschichte erzählen dürfe. "Geht es um die Juden?" "Ja um die Juden, die im Osten umgebracht werden." Gerstein war nur mit Mühe zu bewegen, leise zu sprechen. Er schluchzte und schlug die Hände vors Gesicht. Ich dachte, er wird diese Gewissensqualen nicht mehr lange aushalten. Er wird sich verraten und sie werden ihn dann verhaften.

Hinschauen als Widerstand

Noch Schlimmeres geschah: nichts. Der schwedische Gesandte gab Gersteins Informationen zwar an seine Regierung weiter, dort hielt man sie aber für zu brisant, um sie an eine kriegführende Macht zu geben. Wobei die britische Regierung aus anderen Quellen etwa zur selben Zeit sichere Nachrichten vom Holocaust hatte. Die Welt wusste vom millionenfachen Mord und tat nichts dagegen - dieses Drama hat der Schriftsteller Rolf Hochhuth 1963 in seinem Theaterstück "Der Stellvertreter" in Szene gesetzt und Gerstein damit ein Denkmal gebaut. Hochhuth inszenierte Gerstein als Gegenspieler zu Papst Pius xii., der nicht öffentlich gegen den Holocaust protestieren wollte. Der Showdown zwischen ss-Mann und Papst ist freilich fiktiv. Gersteins einziger Kontakt zur katholischen Kirche war ein vergeblicher Versuch, den Nuntius in Berlin zu informieren. Der überzeugte Protestant Gerstein hatte aber gute Kontakte zur kirchlichen Opposition in der evangelischen Kirche, zur so genannten Bekennenden Kirche. Deren leitende Geistliche wussten von Gerstein über die Konzentrationslager. Sie gaben die Informationen zwar an die schwedische Kirche weiter, wollten aber die Gläubigen in Deutschland nicht mit diesen brisanten Informationen belasten. Gerstein als Zeuge gegen die evangelische Kirche - so wurde die Geschichte noch nicht erzählt. Zwar würdigte der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Wolfgang Huber, dieses Jahr Kurt Gerstein mit "besonderem Respekt" als einen evangelischen Widerständler. Aber als Anlass zu kirchlicher Selbstkritik nahm Huber den Jubeltag nicht.

Kurt Gerstein gehörte zur Bekennenden Kirche und war während des Studiums in der christlichen Jugendarbeit aktiv. Dem Nationalsozialismus stand er anfangs aufgeschlossen gegenüber und trat im Mai 1933 in die nsdap ein. Aber nach und nach erlebte er, dass wir in religiöser Beziehung vom Nationalsozialismus seit 1933 in der tollsten Weise an der Nase herumgeführt werden, und dass das praktische kulturelle Ziel nicht nur die Vernichtung der katholischen und evangelischen Kirche, sondern jedes ernsthaften Gottesglaubens in Deutschland überhaupt ist. Weil er Schriften der Bekennenden Kirche verschickt hatte, wurde er inhaftiert und verlor seine Staatsanstellung als Bergbauassessor. Finanzielle Sorgen erzwangen eine berufliche Neuorientierung. 1941 trat er in die ss ein. Als Motiv für diesen Schritt gab er später an, dass er den Gerüchten nachgehen wollte, wonach geistig behinderte Menschen umgebracht wurden. Seine Schwägerin war eines der "Euthanasie"-Opfer.

In der ss wurde er zum Desinfektionsfachmann ausgebildet. Desinfiziert wurde mit dem Blausäurepräparat Zyklon B. Genau diese Tatsache führte Kurt Gerstein im August 1942 auf seine furchtbare Dienstreise: Die Ermordung der Juden erfolgte in den kzs bis dahin mit Dieselgasen. Man suchte aber eine "bessere und schnellere Sache". Gerstein wurde neben anderen Dienststellen der ss damit beauftragt, Zyklon B zu beschaffen. Er wusste nun, was damit geschah. Er habe alle Lieferungen, die auf seinen Namen angefordert wurden, unschädlich gemacht, sagte er später. In der Tat hat er die Blausäuredosen an die "Abteilung für Entwesung und Entseuchung" im Konzentrationslager Auschwitz schicken lassen. Nach der Aussage eines kz-Häftlings wurden die Zyklon B-Dosen aus dieser Abteilung tatsächlich nicht für die Ermordung der Juden benutzt. Ein Indiz, dass Gerstein das Zyklon B, das er bestellt hatte, tatsächlich der Mordmaschine entziehen konnte. Bisher wurde dieses Indiz in keiner der Biografien über Gerstein gewürdigt.

Den Mördern ähnlich werden

Trotzdem bleibt das Dilemma, dass Gerstein durch seine Arbeit in der ss den Mördern ähnlich wurde, wie es Hochhuth in seinem Drama formulierte und zugleich rechtfertigte: Einfach emigrieren? Herrgott, ich sehe / jede Stunde die Menschen in den Kammern sterben. / Solang' mir die geringste Hoffnung bleibt, / dass ich nur einen von euch retten kann, / muss ich's riskieren, dass ich später / den Mördern zum Verwechseln ähnlich sehe.

Die Verwechslungsgefahr wurde Gerstein zum Verhängnis. In den letzten Kriegstagen stellt sich Gerstein den französischen Truppen. In der Kriegsgefangenschaft fängt er sofort an, alles aufzuschreiben, was er bei seiner Arbeit in der ss über den Holocaust gesehen und gehört hatte. Der so genannte Gerstein-Bericht wird zu einem wichtigen Dokument über den Judenmord. Die Franzosen sahen darin aber die Geständnisse eines deutschen ss-Mannes und klagten Gerstein als Kriegsverbrecher an. Der Wachmann, der am Nachmittag des 25. Juli 1945 Gersteins Zellentür im Pariser Gefängnis Cherche-Midi öffnet, findet ihn am Fensterkreuz erhängt.

Wie immer man die moralischen Entscheidungen von Gerstein bewerten mag - eines hebt ihn über viele seiner Landsleute: sein Mut zum Hinsehen. Nach dem Krieg haben sich viele Menschen damit entschuldigt, dass sie nichts genaues gewusst hätten. Besser nicht hinsehen und sich raushalten. Kurt Gerstein hat hingesehen und das Gesehene auch anderen zugemutet. Gerstein hat hingesehen, auch auf die Gefahr, sich in eine ambivalente Situation zu manövrieren. Auch auf die Gefahr, dass aus dem, was er da zu sehen bekommt, eine schaurige Verantwortung erwächst.

Buchtipps:

Der Spion Gottes. Kurt Gerstein

Ein SS-Offizier im Widerstand?

Von Pierre Joffroy. Aus d. Franz. von Ulrich Kunzmann. 3. Auflage, Aufbau Verlag, Berlin 2002, 561 S.,TB , e 10,30

Kurt Gerstein, Zeuge des Holocaust Ein Leben zwischen Bibelkreisen und SS Von Jürgen Schäfer. Luther Verlag, Bielefeld 2000, 260 Seiten, geb., e 20,40

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