"Christen sind dort Bürger zweiter Klasse"

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In regelmäßigen Abständen berichten die Medien über die Benachteiligung oder Verfolgung von Christen in muslimischen Ländern. Sind das Exzesse radikalisierter Islamisten? Nicht nur, antwortet Christine Schirrmacher, Islamwissenschafterin. Die Probleme seien auch auf die enge Verbindung von Staat und Religion im Islam zurückzuführen.

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In regelmäßigen Abständen berichten die Medien über die Benachteiligung oder Verfolgung von Christen in muslimischen Ländern. Sind das Exzesse radikalisierter Islamisten? Nicht nur, antwortet Christine Schirrmacher, Islamwissenschafterin. Die Probleme seien auch auf die enge Verbindung von Staat und Religion im Islam zurückzuführen.

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Die Furche: Man hört immer wieder, daß Christen in den meisten islamischen Ländern als Staatsbürger zweiter Klasse leben müssen. Stimmt das?

Christine Schirrmacher: Christen werden in der islamischen Welt fast überall benachteiligt. Zugänge zu Bildungseinrichtungen wie etwa Universitäten werden verwehrt, oft bleibt Christen die höhere Laufbahn in der Verwaltung, im Gerichtswesen oder beim Militär verschlossen. In einigen Ländern, wie etwa in Pakistan, werden den Christen sogar nur bestimmte Berufe zugewiesen. Das geht bis zu gesellschaftlicher Diskriminierung, etwa bei Eheschließungen.

Die Furche: Die meisten islamischen Länder haben die UNO-Menschenrechtserklärung unterschrieben. Sehen diese Staaten da keinen Widerspruch?

Schirrmacher: Nein. Man muss beide Systeme von innen heraus begreifen. Das westliche Menschenrechtsverständnis sieht in diesen religiösen Vorschriften und Beschränkungen in der islamischen Welt klare Menschenrechtsverletzungen. In der islamischen Welt herrscht aber ein anderes Verständnis von Menschenrechten. Sie werden dort immer dem Koran und der Scharia, dem islamischen Recht, untergeordnet. Religionsfreiheit besteht nach diesem Verständnis nur insoweit, als angestammte christliche Minderheiten ihre Religion behalten dürfen, also nicht zum Islam übertreten müssen. Und diese Freiheit gewähren die islamischen Staaten ja auch.

Die Furche: Im Westen steht der Staat den Religionen neutral gegenüber. Wie sieht man das im Islam?

Schirrmacher: In der islamischen Welt ist der Staat nie eine neutrale Instanz. Es gibt keine Trennung zwischen öffentlichem und privatem Bereich, zwischen staatlichen Kompetenzen und privaten Überzeugungen. Das islamische System umfasst Religion, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Religiöse Zugehörigkeit oder gar ein Religionswechsel sind also niemals privater Natur, sondern werden als öffentlicher Akt begriffen.

Die Furche: Sind dann Christen oder Angehörige anderer religiöser Minderheiten vollwertige Staatsbürger?

Schirrmacher: Staatsbürger im vollen Sinne können sie niemals werden. Wenn der Staat Träger der religiösen Idee und der Islam Staatsreligion ist, bedeutet die Nichtzugehörigkeit zum Islam immer auch eine eingeschränkte Staatsloyalität. Von daher kann, wer kein Moslem ist, volle Bürgerrechte nicht für sich in Anspruch nehmen.

Die Furche: In Pakistan oder Saudi-Arabien, sind Christen schon mit dem Tode bedroht, wenn sie den Islam oder den Propheten Mohammed "verleumden". Was wird darunter verstanden?

Schirrmacher: Aus unserer Sicht wäre Verleumdung ein offener Angriff auf die Person Mohammeds oder mindestens eine Beleidigung. Aus islamischer Sicht ist alles eine Beleidigung, was nicht vom islamischen Standpunkt aus über Mohammed gesagt wird. Da die Mohammed-Verehrung gerade in Pakistan sehr groß ist und ihm viele Tugenden zugeschrieben werden, wird alles, was nicht von diesem Standpunkt aus geäußert wird, als Verleumdung des Propheten betrachtet. Spricht ein Christ von seinem Glauben an Jesus Christus, ist das automatisch eine Herabsetzung Mohammeds, ohne dass sich der betreffende Christ direkt über Mohammed geäußert haben muss.

Die Furche: Was erwartet Muslime in der islamischen Welt, wenn sie Christen werden?

Schirrmacher: Das ist nicht in jedem Land gleich. Es drohen aber regelmäßig Konsequenzen. War der Konvertit verheiratet, erfolgt automatisch die Scheidung, da keine Muslimin mit einem Nichtmoslem verheiratet sein darf. Der Konvertit verliert Besitz und Arbeitsstelle. In jedem Fall wird eine Ermahnung durch die Familie erfolgen. Sie wird vielleicht einen Geistlichen zu Hilfe rufen, der versucht, den Konvertiten zum Islam zurückzuführen. Sie wird vielleicht Druck ausüben, indem sie ihn in eine psychiatrische Anstalt einweist - mehrere solche Fälle sind aus Ägypten bekannt. Eventuell wird sie ein Gerichtsverfahren anstrengen. Das ist aber nur selten der Fall.

Die Furche: Was passiert, wenn ein Muslim, der Christ geworden ist, ohne Gerichtsurteil drangsaliert wird? Erwartet den Täter eine Strafe?

Schirrmacher: Wer einen Konvertiten ohne Gerichtsurteil "bestraft" muss mit keiner Verurteilung rechnen. Er hat nach islamischem Verständnis dem rechtmäßigen Urteil über einen Konvertiten, der Todesstrafe, nur vorgegriffen, aber kein Unrecht begangen. Der Richter kann ihn zurechtweisen. Er kann eine geringe Geldstrafe verhängen, aber wahrscheinlich wird er gar nichts tun. Bei diesen erheblichen Konsequenzen müsste man ja annehmen, dass nicht viele Moslems Christen werden. Nach menschlicher Vorstellung dürfte es vor islamischem Hintergrund kaum Konversionen zum Christentum geben. Jeder, der das auch nur erwägt, riskiert viel. Dem zum Trotz werden heute anscheinend mehr Muslime Christen als jemals zuvor. Je stärker der Druck wird, desto größer wird bei einigen das Interesse am Christentum. Es wird durch verschiedene Medien geweckt, zum Beispiel Bibelübersetzungen, die vermehrt in die islamische Welt gebracht werden, durch sehr beliebte Videofilme, die das Leben Jesu zeigen und natürlich auch durch Christen, die in diesen Ländern beruflich tätig sind.

Die Furche: Im Westen wird häufig gesagt, all das käme gar nicht aus dem wirklichen Islam. Der Islam sei eine tolerante Religion. Legte man ihn richtig aus, würde das alles nicht geschehen. Was halten Sie davon?

Schirrmacher: Toleranz heißt im Westen, dass auch der Andersdenkende das Recht auf freie Meinungsäußerung hat. Der Islam versteht darunter, dass nicht alle Andersgläubigen zum Islam konvertieren müssen, vor allem nicht Juden und Christen, die im Koran als "Schriftbesitzer" bezeichnet werden. Sie dürfen innerhalb der ihnen gesteckten Grenzen ihre Religion ausüben, aber diese Grenzen dürfen sie nicht überschreiten und etwa Muslime zum Glauben an Jesus Christus einladen. Der Islam wird sich niemals das westliche Toleranzverständnis zu eigen machen.

Die Furche: In Westeuropa können sich Muslime frei entfalten. Manche christliche Gemeinden sammeln sogar Geld zum Bau von Moscheen. Wie kommt das bei Muslimen an?

Schirrmacher: Es gibt Verlautbarungen von Gruppen, die eher dem islamistischen Flügel zuzurechnen sind, die dieses westliche Toleranzdenken mit Verachtung quittieren. Sie sehen das als Zeichen von Schwäche. Sie glauben, dass das Christentum im Westen auf der ganzen Linie abgewirtschaftet habe, ja, dass die Christen, vor allem christliche Theologen, es selbst mit Füßen treten. Wenn Sie mit einem Muslim persönlich über den christlichen Glauben sprechen, werden Sie feststellen: Er achtet eher einen Christen, der selbstverständlich, freundlich, aber in der Sache klar zu seinem Glauben steht, als jemanden, der sich von seinem Glauben verabschiedet hat. Glaubenszweifel oder gar Atheismus ist aus muslimischer Sicht schlimmer als ein entschiedenes Christentum.

Die Furche: Was sollen Christen im Westen tun, um denen zu helfen, die in islamischen Ländern verfolgt werden?

Schirrmacher: Christen sollten sich in der Gesellschaft stärker zu Gehör bringen, da ja nicht nur Muslime, sondern auch viele Europäer meinen, dass es gar keine richtigen Christen mehr gibt, sondern nur noch säkularisierte Westler, die nicht bereit sind, für ihren Glauben einzustehen, einen Glauben der immerhin Grundlage unseres Staats- und Rechtsverständnisses ist. Christen sollten sich viel selbstverständlicher zu Wort melden, ohne sich für ihre Existenz zu entschuldigen. Sie sollten ihre Positionen freundlich und sachlich vortragen und erwarten, dass sie in der pluralistischen Gesellschaft ebenso gehört werden und ihre Ansichten vertreten können wie andere.

Die Furche: Hilft auch die persönliche Begegnung mit Muslimen?

Schirrmacher: Auf jeden Fall. Jeder sollte das, wenn möglich, in seinem Umfeld pflegen. Man sollte sich nicht von Vorurteilen und Panikmache konfus machen lassen, sondern den Menschen begegnen, wo man die Gelegenheit hat und ihnen zeigen, dass es noch Christen gibt, die zu einigen Dingen eine andere Meinung haben als sie in den Medien zu hören ist. Es ist doch ein Drama, wenn man in Istanbul mit einem Taxifahrer unterwegs ist, der 30 Jahre in Deutschland gelebt hat, aber niemals einem bekennenden Christen begegnet ist. Ganz wichtig ist es auch, für die verfolgten Christen zu beten, Anteil zu nehmen an ihrem Leiden und ihnen Unterstützung zukommen zu lassen, wo immer es geht, seien es materielle Hilfen oder Protestbriefe für Christen, die in Gefängnissen sitzen.

Das Gespräch führte Michael Ragg.

ZUR PERSON Als Dozentin in Bonn und Hamburg Dr. Christine Schirrmacher (Jahrgang 1962) studierte Islamwissenschaft (Arabisch, Persisch, Türkisch), Geschichte und Vergleichende Religionswissenschaft in Giessen und Bonn. Sie promovierte 1991 in Bonn mit einer Arbeit über christlich-islamische Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert. Sie unterrichtet Islamwissenschaften am Martin Bucer Seminar Bonn und Hamburg und ist Mitglied der "Ständigen Arbeitsgruppe Islam" der Lausanner Bewegung und der Deutschen Evangelischen Allianz. Sie ist die deutsche Koordinatorin für die Gebetsinitiative "30 Tage Gebet für die islamische Welt".

"Kirche in Not/Ostpriesterhilfe" hat einen Bericht mit dem Titel "Die Religionsfreiheit in den Ländern mit überwiegend islamischer Bevölkerung" erstellt (166 Seiten). Er kann bei "Kirche in Not/Ostpriesterhilfe", Hernalser Hauptstraße 55, 1172 Wien, Tel: (01) 405 25 53, E-mail: kin@kircheinnot.at, bestellt werden.

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