Christliches Krebsgeschwür

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Furche Nr. 41/10. Oktober 1950

Im Herbst 1964 wurde den Konzilsvätern eine Erklärung des II. Vatikanischen Konzils vorgelegt, die die Juden nicht vom Gottesmord entlastete. Außerdem war die "österreichische Ausgabe" der antisemitischen Hetzschrift "Verschwörung gegen die Kirche" in Umlauf gekommen. Friedrich Heer bezog in einem Leitartikel Stellung zu diesem katholischen Antisemitismus:

Für die katholische Kirche geht es um die Öffnung zu einer neuen, erstmaligen Begegnung mit den Juden. Dies setzt die Überwindung einer eineinhalbtausendjährigen Tradition voraus. Der christliche Antisemitismus ist die Krebskrankheit des Christentums. {...}

Nach jahrelangem Ringen um die Erklärung über "die Juden und die Nichtchristen" des II. Vatikanums wurde nunmehr in diesem Herbst den Konzilsvätern eine Fassung vorgelegt, welche die Juden nicht vom tödlichen Vorwurf des Gottesmordes entlastet ... In der gegenwärtigen Erklärung heißt es nur: "Man kann nicht den Juden unserer Zeit anlasten, was bei der Kreuzigung Christi geschah." {...}

Mitten in den eben erst begonnenen großen Kampf, dessen Entwicklung in den nächsten Generationen heute noch nicht abzusehen ist, führt ein Werk hinein, das bei Beginn des II. Vatikanischen Konzils allen Konzilsvätern zunächst in italienischer Sprache überreicht wurde, und das jetzt in einer "österreichischen Ausgabe" vorliegt. {...}

" Der Jahrhunderte dauernde Kampf der heiligen Kirche gegen die jüdische Religion und ihre Riten hatte nicht, wie man fälschlicherweise sagt, die religiöse Unduldsamkeit des Katholizismus zum Anlaß, sondern die ungeheure Verruchtheit der jüdischen Religion, die eine tödliche Bedrohung für die Christenheit darstellt." {...}

Diese "Dokumentation" ist todernst zu nehmen. Sie spricht eine menschliche Gesellschaft an, in der pathologische Elemente hochdrängen... Ein Blick auf Österreich, in unser Land, in die Briefe, die unsere Redaktion "in Sachen Juden" im Lauf von bald zwei Jahrzehnten erhalten hat, zeigt, wie anfällig auch in unserem Volk Menschen für diese Krebskrankheit des Christentums sind.

Der christliche Antisemitismus zehrt auch deshalb das Mark der Substanz des Christentums auf, da er mit der tiefen Verwurzelung des Jesus von Nazareth im Alten Testament, in den reichen religiösen und spirituellen Traditionen Israels gerade auch dies "übersieht", nicht wahrnehmen will: Wenn das Christentum auf seine eigene Einwurzelung in diesen Lebenskräften des alten Bundes verzichtet, vermag es jene Weltfreude, jene Gerechtigkeitssuche, jene selbstkritische Frömmigkeit im Angesicht Gottes und des Menschen, jene Verpflichtung, für die ganze Menschheit "das Reich Gottes" in Leben und Leiden hier und heute vorzubereiten, nicht zu sehen, die das Judentum durch die Jahrhunderte bezeugt.

Nächste Woche: furche-Umfrage 1965 zum Linkskatholizismus.

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