Das Behagliche an der Unwahrheit

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In einer unvollkommenen Welt sind Lügen für die Menschen in vielen Fällen erträglicher als die Wahrheit. Einträglicher sind sie auch. Ein Essay.

Das Historische Wörterbuch der Philosophie widmet der Lüge sechs große Seiten, das katholische Lexikon für Theologie und Kirche eine knappe Spalte und die protestantische Theologische Realenzyklopädie verweist unter dem Stichwort "Lüge“ nur auf den Artikel "Wahrheit“. Man könnte daraus nun schlussfolgern, dass PhilosophInnen deutlich mehr lügen als KatholikInnen und dass ProtestantInnen gar nicht lügen. Oder aber, dass die Lüge eine komplexe Sache ist und anders als das lutherische "Hier stehe ich und kann nicht anders“ immer mehrere Optionen bietet. Der Lügner kann auch anders.

Überhaupt scheint das Christentum in seinen Anfängen einen sehr rigorosen Zugang zum Thema Lüge zu haben und sie als Opponentin der Wahrheit in ein dualistisches Weltdeutungsmodell einzuordnen. Während gemäß dem Johannesevangelium Jesus selbst "der Weg, die Wahrheit und das Leben ist“ (Joh 14,6) und er seinen Jüngern verspricht: "Die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8,31), ist Satan der "Vater der Lüge“ (Joh 8,44). Es ist das Postulat von der freimachenden Wahrheit, das mir als Katholikin so viel Unbehagen bereitet und mir eine simpel affirmative Position zur Wahrheit und umgekehrt zur Lüge erschwert. Die Wahrheit macht möglicherweise im Umgang mit religiösen Institutionen Ausnahmeerscheinungen wie Martin Luther frei, braven Durchschnittskatholikinnen macht sie oft genug Ärger. Die in diversen Ordinariatsämtern gern gestellte Frage nach einem eventuell nicht normkonformem Privatleben "Leben Sie mit einem Mann/einer Frau zusammen?“ sollte am besten dadurch beantwortet werden, dass beide Partner die Wohnadresse der Eltern anführen - so der oft gehörte Rat an junge Theologinnen und Theologen.

Definitionen der Unwahrheit

Ist das eine Lüge? Der Definition des Heiligen Augustinus folgend (in Sachen unehelicher Lebensgemeinschaft besonders gut zitierbar), ja: Für ihn zählt allein die Täuschungsabsicht des Lügners, selbst wenn er die sachliche Wahrheit sagt (in unserem Fall die Meldeadresse bei den Eltern). Mit Thomas von Aquin könnten unsere jungen Theologen zumindest argumentieren, dass keine falsitas materialiter, als keine Lüge im materiellen Sinne vorliege, sondern ein mendacium officiosum, eine Dienstlüge im wahrsten Sinne des Wortes. Thomas verurteilt freilich in letzter Konsequenz genauso wie Augustinus die Lüge in jeder Form und zu jedem Zweck, selbst zum Schutz des eigenen oder fremden Lebens - und somit erst Recht zum Schutz der Privatsphäre.

Die kategorische Verurteilung der Lüge ist also aus der christlichen Tradition nicht wegzuargumentieren, die moralische Verurteilung des Lügners eine Konstante seit dem Neuen Testament. Und dennoch: Der Aufruf zur unbedingten Wahrheit unter allen Umständen hat einen seltsam unchristlichen Beigeschmack. Die Wahrheit hat auf ihrem Marsch durch die religiösen Institutionen totalitäre Züge angenommen, sie ist zum Macht- und Herrschaftsinstrument geworden, demgegenüber die Lüge zur Überlebensnotwendigkeit werden kann. Diese Maxime gilt auch für diverse innerweltliche Heilslehren, die nicht zuletzt daran zu erkennen sind, dass die vermeintliche Wahrheitsfindung auf der Folter basiert. In der aktuellen westlichen Gesellschaft sind wir, Gott und der stabilen Demokratie sei Dank, von solchen Wahrheitsexzessen deutlich entfernt.

Postmoderne Grundhaltung

Die postmoderne Grundhaltung des gelernten Österreichers entspricht viel eher jener des Pontius Pilatus, der angesichts der Behauptungen unterschiedlicher religiöser und politischer Gruppierungen in einer wenig zivilisierten Ecke des Imperiums nur resignativ feststellen konnte: "Was ist Wahrheit?“ Quid est veritas, mit zynisch gleichgültigem Unterton geäußert, ist die noble Variante des gerade in Vorwahlzeiten oft zu hörenden: "Alles Lügner, alle miteinander!“ Die Pluralität der ideologischen Wahrheiten macht die Staatsbürger frei, sie verführt aber zu all jenen Arten der Lüge, die Aristoteles in seinen Überlegungen auflistet, und die sich unter Prahlerlei zum Zweck von Ehre und Ansehen sowie finanzieller Vorteile zusammenfassen lassen. Aristoteles fällt kein kategorisch moralisches Urteil wie die strengen Kirchenlehrer, für ihn ist die Lüge vielmehr die Vorspiegelung von an sich wünschenswerten Eigenschaften wie Reichtum, Intelligenz, gesellschaftlichem Status, die der Lügner leider nicht besitzt. Ob Aristoteles seine Definition der Lüge, des Pseudos, heute eher anhand von Castingshows oder Politikerdiskussionen illustrieren würde, muss eine offene Frage der "Was-wäre-wenn“-Philosophiegeschichte bleiben.

Die Lüge ist einer von vielen möglichen Konjunktiven, demgegenüber die Wahrheit nur einen Indikativ kennt. Das macht sie so verführerisch in einer unvollkommenen Welt, in der die wahre Realität oft schwer zu ertragen ist und sich die Flucht in die imaginierte Möglichkeit anbietet. Und selbst wo die indikativische Realität vollkommen zu sein scheint, gehen wir gern der Lüge des noch besseren Konjunktivs auf den Leim: Die Schlange verspricht eine Steigerung des perfekten Lebens im Paradies - und schon greifen Eva und Adam zu. Wir wollen den Plakaten und Werbespots, die uns ewige Jugend und sichere Pensionen, Traumurlaube und Wirtschaftswachstum, Schönheit und Sicherheit versprechen, glauben, obwohl wir ahnen, dass es Lügen sind. Die Wahrheit ist dem Menschen zwar nach Hannah Arendt zumutbar, für die meisten aber eine Zumutung, vor der sie lieber in die potentielle oder oft genug irreale Möglichkeit der Lüge entfliehen. Gerade das Genre der Werbung ist ein schönes Fallbeispiel dafür, dass Platon und Thomas von Aquin heute gehörig durcheinander kommen würden mit Wahrheit und Lüge: War für diese beiden die Wahrheit eine der höchsten Ideen überhaupt und einhergehend mit den beiden anderen Kardinalideen des Guten und Schönen, so sind heute die Werbesujets voll von Gutem und Schönem, das eine Lüge ist, weit von der weder guten noch schönen Wahrheit entfernt.

Die Wandlung der Wahrheit

Vielleicht wurzeln gerade hier meine postmodernen Probleme mit der Dichotomie von Wahrheit und Lüge: Die Wahrheit hat sich allzu oft als hässlich und schlecht für menschliche Individuen erwiesen, als dass sie noch mit dem Guten und Schönen in Verbindung gebracht werden könnte. Nur mehr die raffiniertesten Formen der Lüge schaffen es, den Menschen die Wahrheit als gut und schön zu verkaufen: Jene nämlich, die uns vorgaukeln, aus dem Konjunktiv könnte bei entsprechender Anstrengung und Kaufkraft ein Indikativ werden, aus dem unförmigen Körper ein muskulöser Sixpack und aus dem grauen Kompromissgeschäft Politik ein reinweißer Tempel. In solchen Fällen ist denn doch dem Apostel Paulus zuzustimmen: Verkleidete Engel des Lichts (2Kor11) sind gefährlich und nicht selten führt das Versprechen, die Idee der Wahrheit in die Realität umzusetzen und jede Lüge zu verbannen zur oben geschilderten Situation, in der die Lüge zur einzig möglichen Form der wahrhaftigen Existenz in einem totalitären Regime wird.

Vielleicht hat also doch das protestantische Nachschlagewerk den besten Beitrag zum Thema Lüge: Wer unter Lüge nachschlägt, wird auf die Wahrheit verwiesen - und umgekehrt.

* Die Autorin ist Professorin für Theologie an der Universität Graz

In Zeiten der Lüge

Im antiken Griechenland fielen Lüge und Irrtum noch in einen Begriff. Heute hat Unwahrheit mit Irren kaum etwas zu tun, mit Absicht hingegen sehr viel. So gesehen müsste gedichtet werden: "Es lügt der Mensch so lang er strebt“ - vor allem im Wahlkampf. Was dabei herauskommt, in Politik, Gesellschaft und Literatur, erfahren Sie hier. Redaktionelle Leitung: Oliver Tanzer

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