St. Petersburg - © Foto: Pixabay

Russland und "Eurasien": Das gekränkte Imperium

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Russlands Verhalten im Ukraine-Konflikt erklärt sich aus seinem kulturhistorischen Selbstbild - und den zugehörigen hysterischen Fiktionen in Ost und West.

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Russlands Verhalten im Ukraine-Konflikt erklärt sich aus seinem kulturhistorischen Selbstbild - und den zugehörigen hysterischen Fiktionen in Ost und West.

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Viel ist in den Zeiten der Ukraine-Krise vom russischen Rückfall in Denkweisen des Kalten Krieges und der Geopolitik die Rede: Dabei fällt auf, dass auf vielen Gebieten nicht nur die vom russischen Präsidenten Wladimir Putin so bezeichnete "Jahrhundertkatastrophe" - der Zusammenbruch der Sowjetunion - rückgängig gemacht werden soll.

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Ein Hauptmerkmal dieses aus westlicher Sicht so schwer nachvollziehbaren Rückfalls ist die Gleichsetzung von geographischen Räumen und politischen Sphären. Der alte Spruch Johann Gottfried Herders, Russlands "Geschichte ist seine Geographie", wird reanimiert und nimmt wieder jene drohende Gestalt an, die das östliche Imperium immer für Europa hatte. Bei dieser Gelegenheit begegnen wir weniger historischen Fakten als vielmehr hysterischen Fiktionen, die jenen Projektionen entstammen, die der Osten dem Westen lieferte, um sie selbst wieder und wieder als selbstgemachte Fremdbilder zu reimportieren. Diese Export-Import-Firma floriert nun bald schon das dritte Jahrhundert und handelt mit Devotionalien wie der Weite der russischen Seele ebenso wie mit jener der russischen Steppen und ihren skythischen Nomaden.

Russland als Tabula rasa

Es ist ganz zweifellos, dass Leibnitz für Peter den Großen ebenso wie zwei Generationen später Diderot oder Voltaire für Katharina ein Russlandbild entwarf, das mit dem Argument der Geschichtslosigkeit Geschichte machen sollte: Russland ist die Großbaustelle für einen auf dem Reißbrett entworfenen Idealstaat: Es ist geschichts- wie schicksalslos und zugleich beherrscht von einer 'orientalischen Despotie', die ein Reich der Vernunft aus dem Nichts hervorbringen sollte.

Während im Abendland aus Materie Geist entsteht, Quantität in Qualität umschlägt, läuft es in Russland offenbar umgekehrt: Hier springt die Qualität um in Quantität: seine enorme Weite, seine räumliche Endlosigkeit und chaotische Unstrukturiertheit. All das galt den national denkenden Slawophilen des 19. Jahrhunderts als Qualitätsmerkmal, schaudererregend wie die Eiswüsten der Pole oder die Wasserschlünde des Meeres, die Anziehung und Abscheu zugleich erregen. Da man im "Westen" von Russland nichts wusste oder wissen wollte, konnte sich dort letztlich alles auftun - das Licht der Aufklärung ebenso wie das Herz der Finsternis.

Was man entdeckte, waren eine leere Fläche und Menschenbilder, die als ideale Projektionsfläche einer externen Erleuchtungsbehandlung herhalten konnten. Leibnitz sah in Peter dem Großen einen, der sein Land "debarbarisierte", und er teilte mit dem Zaren die Überzeugung, dass ein solch barbarisches Land idealerweise einzig von oben revolutioniert werden könne. "Denn weil in dero Reich", schreibt Leibnitz 1712 an den Zaren, "großen Theils noch alles die Studies betreffend neu und gleichsam in weiß Papier, so können unzehlich viel Fehler vermieden werden, die in Europa allmählich und unbemerkt eingerissen."

Aber war es nicht gerade die Gründung Sankt Petersburgs selbst, die einer solchen Mythisierung der Tabula rasa "Russland" massiv Vorschub leistete? Hier der Gründungsmythos mit den Worten eines russischen Historikers: "An einem nebligen Frühlingsmorgen des Jahres 1703 zog ein Dutzend russischer Reiter über das raue und unwirtliche Marschland, wo die Newa in die Ostsee mündet. Sie hielten Ausschau nach einem Ort, an dem sie eine Festung gegen die Schweden errichten könnten. (...) Für den Zaren, der an der Spitze des Spähtrupps ritt, war der Anblick des breiten, sich windenden Stroms auf seinem Weg ins Meer... ein Anblick der Hoffnung. Als sie die Küste erreicht hatten, stieg der von seinem Pferd. Mit dem Bajonett stach er zwei Streifen Torf und legte sie in Form eines Kreuzes auf den sumpfigen Boden. Dann sprach Peter: 'Hier soll eine Stadt entstehen.'"

Ist es nicht dieselbe Gestik des heutigen Präsidenten Russlands, in Sotchi auf den Boden zu deuten und mit derselben imperialen Gestik genau hier die Olympischen Spiele entstehen zu lassen? Immerhin versäumt Putin keine Gelegenheit, seine Herkunft aus Petersburg ebenso zu markieren wie seine Wiederbelebung Peters des Großen.

Gründungsmythen

Die Errichtung Sankt Petersburgs war - wie immer wieder hervorgehoben wird -"auf den Knochen und Leichen" von Zwangsarbeitern erfolgt, die zu Zehntausenden diesen "Ground Zero" des russischen Imperiums bevölkerten. Es war ein wahrhaft "tragisches Imperium", das hier seine Metropole finden - genauer: in einer solchen kulminieren sollte. Topoi der Gewalttätigkeit beherrschen den Gründungsmythos Sankt Petersburgs - und den Russlands. Russland hatte seine Kolonien innerhalb der - permanent sich ausdehnenden - Grenzen des eigenen Reiches als Vielvölkerstaat, der von Petersburg aus das eigene Kernland kolonisierte, gegen sich selbst Krieg führte wie seinerzeit Iwan der Schreckliche und nach ihm immer wieder die Herrscher jenes "tragischen Imperiums". Aber was passiert mit den imperialen Räumen, wenn eine solche imperiale Ordnung stürzt, wie eben die Sowjetunion gestürzt ist? Es kommt zu einer massiven Krise des Selbstbildes.

Gerade aus ihr lassen sich die Taten und die Politik des russischen Präsidenten gegenüber der Ukraine verstehen, aber auch darüber hinaus, wie die "eurasische Initiative" zeigt, die das Imperium zu rekonstruieren versucht. Und sei es auch nur als Phantasma. Denn wie alle Nationalismen in Ost wie West haben sich diese vielfach durch einen völligen Mangel an Geschichtlichkeit ausgezeichnet.

Schon Immanuel Kant hat die Übergröße Russlands zum Paradigma für seine scheinbare Unregierbarkeit erklärt. Vielleicht gilt der Satz "small is beautiful" für Länder, die auf Glück programmiert sind. Dagegen lautet die Losung der Imperien: "big is beautiful", mehr noch: "it is terrible but glorious, dangerous, heroic", das Imperium schlägt immer zurück und zehrt vom Ruf des Grandiosen. Imperien sind Ausgeburten des Erhabenen, des Sublimen in ihrer gigantischen oder auch nur übergewichtigen XX-large Version.

Imperien sind aber auch lächerliche Panzerkreuzer, die ihren Schuss in die Geschichte abgeben können - sonst aber Potjomkinsche Dörfer produzieren, Zivilisationskulissen in der großen Leere, wie das von dem gleichnamigen russischen General ausgerechnet auch auf ukrainischem Boden inszeniert wurde. Damals ging es dem Favoriten der Zarin Katharina um das Vorgaukeln von Realitäten, heute sind es die Realitätenhändler, die ein Reich der Immobilien managen. Letztere wohl auch im wörtlichen Sinne.

Europa, Asien oder Eurasien?

Im Jahrhundert zwischen Wiener Kongress und Oktoberrevolution machte Russlands Kampf gegen die "westliche" Aufklärung ein eigenes Gegenmodell nötig, das man in einem Phantasieorient zu finden glaubte: Unser Eigenes ist das Fremde(ste) der anderen - also sind wir nicht nur der Osten Europas, sondern gleich der Orient, Asien, ein exotisches Morgenland, in dessen Anschein sogar die Jahrhunderte des Mongolenjochs in einem positiven Lichte erscheinen. Für Russland gilt in hohem Maße eine starke Orientierung auf seine Außenwirkung und die permanente Reflexion seiner geopolitischen Position als Kultur bzw. Land des Ostens, Asiens und/oder Europas. Diskussionen dieser Art manifestieren sich zwischen national orientierten Slawophilen und europaorientierten "Westlern" - eine Polarisierung, die es in allen osteuropäischen Kulturen gegeben hat und noch gibt. Sie sind auch heute in Russland sehr dominant - man denke etwa an die Neubelebung des "Eurasianismus" im postsowjetischen Kontext - mit all seinen nationalistischen Auswüchsen.

Alexander Dugin, der Chefideologe dieser Richtung, hat ja mittlerweile nicht bloß das Ohr des Präsidenten, sondern auch den Verstand westlicher Rechtspopulisten erobert.

Die Eurasierbewegung nach dem Ersten Weltkrieg war ein Kind der russischen Emigration und damit auch einer massiven kulturellen Nostalgiebewegung. Anders als man dachte, hat sie die Sowjetunion als Unterströmung nicht nur überlebt, sondern nach der Wende zum gelobten Land ihrer geschichtsphilosophischen Konstruktionen erhoben. Die heutigen Eurasier streben nicht nach einer Synthese aus Europa und Asien - sondern nach einem "dritten Weg", der das Plakatieren rüder antieuropäischer und antiwestlicher Reflexe erforderlich macht. Die Vormoderne - verkörpert durch ein Russland der Alten Werte - rüstet auf gegen die westliche Postmoderne und ihre verwöhnten Kinder.

So sehen es viele Russen in der Tradition des slawophilen Europabildes aus dem wiedererstandenen 19. Jahrhundert. Hier wird der Westen als dekadent, krank oder schlichtweg todgeweiht dargestellt. Heute lassen sich all diese Merkmale auf die Formel reduzieren, die Zivilgesellschaft sei ein schlapper Schwulenverein und der Westen insgesamt das Opfer seiner Perversionen. Dass in einer solchen Konstellation die mehr oder weniger rechtspopulistischen Strammsteher mit den östlichen Freunden Bruderschaft trinken wollen, kann nicht verwundern. Es hat den Vorteil, Klarheit in jenem Pingpong-Spiel zu schaffen, das die heiße Kartoffel des Faschismusvorwurfes in die jeweils andere Zone loswerden möchte.

Das Wechselspiel der Bilder

Das Fazit: Während der Westen die von ihm selbst stammenden Russlandbilder - intensiviert und radikalisiert -direkt aus Russland geliefert bekommt, können sich die Slawophilen in Russland an Stereotypen gütlich tun, die aus Westeuropa selbst stammen: Man denke etwa an die fixe Idee eines "verfaulenden Westens", die in Frankreich um 1840 aufkam. Im Grunde lieferte also eine jede Seite der anderen genau jene Argumente, die diese hören wollte und zu eigenen Zwecken gebrauchen konnte. So schlägt immer wieder westliche Zivilisations(selbst)kritik um in eine Russlandbegeisterung, die sich nicht an Argumente und Fakten hält. Vielmehr handelt es sich um eine Heroisierung des gefürchteten Anderen und dessen Verkennung - gepaart mit der Verkennung seiner selbst.

Zauberformeln

Russophilie dieser Art teilt jene fragwürdige Grundhaltung, die auch am Philosemitismus entlarvt wurde. Beispiele dafür lassen sich nicht selten bei den Wohlmeinendsten finden, die eine vielfach ja nicht unberechtigte West-Kritik durch einen irrationalen Drang nach Osten zu kompensieren trachten. Auf tragikomische Weise wird dieser durch einen russischen Drang nach dem Westen - denn auch den gibt es ja - gespiegelt. Dazwischen hängt eine mehr oder weniger zerschlissene Leinwand, auf die von beiden Seiten Historienfilme projiziert werden. Ost minus West = Null hieß die Zauberformel des Kalten Krieges. Eine noch ältere lautet bekanntlich: Minus mal minus ergibt Plus.

Noch heute stimmen die Einschätzungen des aus Russland stammenden Kulturphilosophen Boris Groys aus dem Jahr 1995. Für ihn tritt die westliche Angst-Lust als Erfolgsstory eines allzu nahen Ostens auf, der jene narzisstische Kränkung nicht verwinden konnte, schlichtweg unbeachtet und damit inexistent zu bleiben: "Die Russen sind die Heiden des modernen Europa, die mit seinen alternativen Ideologien ernst machen (...) Russland war und bleibt für den Westen in erster Linie der Ort der Bedrohung. (...) Russland übernimmt das Westliche, um es besser zu bekämpfen - (...) Dadurch entsteht dieser besondere Effekt der Verfremdung. Auch die Russen wissen seit langem gut genug, was für eine Wirkung ihr Land auf das westliche Ausland ausübt - und spielen ganz bewusst mit diesem Effekt."

Der Autor ist Prof. em. für Slawistik der Univ. München und Mitglied der Akademie der Wissenschaften.

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