Das Gewissen als Herzensklugheit

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"Nicht die Wissenden sind gut, sondern die Gewissenhaften": So lautet eine der vielen Überlegungen, die Kardinal König über das Gewissen angestellt hat. Fünf Lektionen zur Gewissensbildung aus dem Vermächtnis des vor fünf Jahren verstorbenen großen Mannes der Kirche.

"Nicht die Wissenden sind gut, sondern die Gewissenhaften", schreibt Kardinal König und zeigt damit den engen Zusammenhang zwischen Gewissen und Liebe auf - denn: Die Gewissenhaften, das sind die Sorgfältigen; das sind diejenigen, die Verantwortung und Sorge übernehmen und damit jene Haltung verkörpern, die man als Haltung der Liebe bezeichnen könnte. Liebe ist die tätige Sorge um das Wohlergehen eines anderen, hat Erich Fromm seinerzeit gesagt; und der amerikanische Philosoph Harry Frankfurt hat Liebe als "starke Sorge" charakterisiert. Das Gewissen ist Quelle von Sorgfalt, Gewissenlosigkeit eine Form der Lieblosigkeit. Und gegen die vielen Formen der Lieblosigkeit, Engherzigkeit, Dialogverweigerung, Machtbesessenheit, Rachsucht - hat sich Kardinal König zur Wehr gesetzt - und an die Güte des Herzens erinnert.

Man könnte das Gewissen als Klugheit des Herzens verstehen, die Wachheit und Feinfühligkeit verlangt. Das Gewissen beruft sich auf allgemeine Überzeugungen, die zu persönlichen Überzeugungen geworden sind; wir haben es mit Überzeugungen zu tun, die auch einen affektiven Gehalt, eine gefühlsmäßige Stärke aufweisen und uns drängen, in eine bestimmte Richtung zu streben. Diese Klugheit des Herzens muss gebildet werden, behutsam und stetig.

Das Gewissen Österreichs

Kardinal König hat in seinen Schriften und Vorträgen immer wieder Bezug genommen auf das menschliche Gewissen und hat auch in einem tiefen Sinn das Gewissen Österreichs verkörpert - warnend und mahnend, richtungweisend und bestärkend. Ich möchte fünf Lektionen von Kardinal König über das Gewissen nennen, die uns helfen, das Gewissen zu verstehen:

Eine erste Lektion - Kardinal König schreibt: "In einer gesunden Familie lernt der junge Mensch das Gewissen kennen, den Ruf Gottes." Das Gewissen muss gebildet werden. Dazu bedarf es eines geschützten Raums, in dem Menschen ermutigt und bestätigt werden, nicht unter Rechtfertigungsdruck stehen, Fehler machen dürfen und herausfinden können, wo ihre Anlagen und Neigungen sind und auf welcher Grundlage sie ihre Identität bilden. Im Idealfall ist die Familie der geschützte Raum, in dem "Ja" zu einem Kind gesagt wird, in dem das Kind wachsen und blühen kann, und die Eltern Freude am Blühen des Kindes haben. Das Gewissen eines Menschen braucht einen geschützten Raum, in dem der Mensch den Anruf Gottes als "Ja zum eigenen Leben" erfährt.

Eine zweite Lektion Kardinal Königs: "Das Gewissen wächst dort, wo der Mensch dem Unendlichen begegnet ist, Gott begegnet ist". Gewissensbildung ist eine Einübung in die Achtung vor dem Mysterium. In einer Welt, in der die vollständige Analyse angestrebt wird, in der es schwer fällt, mit geheimnishaftem Unverstehbarem umzugehen, ist dieser Zusammenhang zwischen Gewissensbildung und Geheimnis nicht leicht zu vermitteln. Gewissensbildung ruft nach der Anerkennung der Möglichkeit von je Größerem, verlangt nach der Einsicht in einen Horizont, der nicht erschöpfend ausgeleuchtet werden kann. Augustinus schreibt in seiner Schrift über den ersten katechetischen Unterricht, dass es im Unterricht darum gehe, Menschen Ehrfurcht vor dem Mysterium zu vermitteln, vor einer Ordnung, die wir nicht restlos verstehen können. Dass die Liebe eine solche Ordnung ist, wird jeder Mensch zugeben, der die Liebe erfahren hat.

Eine dritte Lektion: "Wer kein Wissen um die Wahrheit hat, hat auch kein Gewissen mehr", schreibt Kardinal König. Das Gewissen ist nicht subjektiv in dem Sinne, dass man sich auf das Gewissen berufen kann, um zu sagen: "Ich fühle mich gerade danach, es so und nicht anders zu machen." Das Gewissen ist Quelle für Sollensansprüche, die wir nicht einfach beliebig erfinden, sondern die aus dem Ringen um Wahrheit, aus der Suche nach über die eigene Person und die vorliegende Situation hinausgreifender Orientierung erwachsen. Gewissensnormen sind zwar persönliche Normen, d.h. mit dem Innersten des Menschen verbundene und dort verwurzelte Überzeugungen, aber sie sind gerade nicht willkürlich, sondern nach einer Ordnung, die man auch begründen kann, ausgerichtet. Gewissen hat mit der Zumutung der Wahrheit, dem "Ja zur Wirklichkeit" zu tun. Menschen, die nicht wach sind, die, wie es bei Thomas von Aquin heißt, "in ihrem Sinn stumpf" und "in ihrem Herzen gefühllos" sind, verbauen sich Möglichkeiten der Gewissensbildung.

Eine vierte Lektion in Form einer Kurzformel Kardinal Königs: "Ge-Wissen heißt: Ich, weiß' etwas in meinem Innersten." Das Gewissen betrifft den Personkern, das Innerste. Diese Wende hin zum Verständnis des Menschen als eines Wesens mit Komplexität und Tiefe hat sich in der westlichen Welt über das Christentum vollzogen. Ein Meilenstein auf diesem Weg sind die "Bekenntnisse" des Augustinus. Hier wird die Einsicht ausgedrückt, dass wir über eine innere Tiefe verfügen, die wir selbst nicht ausloten können, die wir aber pflegen müssen. Und hier scheint eine Grundentscheidung zu liegen: Willst du an der Pflege deines Inneren arbeiten oder nicht? Gewissensbildung geschieht nicht "von selbst", automatisch und ohne unser Zutun. "Behüte den inneren Menschen", mahnt Ambrosius von Mailand in seiner Schrift "Über die Pflichten der Kirchendiener". Und diese Pflege erfüllt in der Stille, in der Ruhe, in der Meditation, im Gebet. Nur ein Mensch, der zur Ruhe kommt, kann sein Gewissen bilden.

"Die Wahrheit in Liebe tun"

Eine fünfte Lektion: Kardinal König erinnert im Zusammenhang mit dem Gewissen an den Mut, den es braucht, um Gewissensurteile in der Öffentlichkeit auch gegen den Strom zu vertreten - und erinnert auch an den Mut zum Leben aus dem Gewissen heraus: "Nun ist das kritische Gewissen müde geworden und etwas ratlos, und der mündige Christ möchte oft wieder ein geborgener Christ sein", schreibt er 1976. Ja, ein Leben aus dem Gewissen muss sich die Mühe der Gewissensprüfung und der mühsamen Suche nach Wahrheit machen. Es mag bequemer sein, sich - aus welchen Quellen immer - im Vollbesitz der Wahrheit zu wähnen und damit das Gewissensurteil als Deduktionsurteil auf der Basis allgemeiner Sätze zu sehen. Aber das Gewissensurteil ist persönlich, mit dem tiefsten Kern der Person verknüpft. Und diese Arbeit an der Persönlichkeit - eingebettet in eine Gemeinschaft und in eine Ordnung von Wahrheit und Wirklichkeit - kann nicht delegiert werden. An diesen Auftrag hat Kardinal König, der mündige Christen bilden wollte, erinnert.

Der Bischofsspruch von Kardinal König lautete: "Die Wahrheit in Liebe tun." Das Gewissen ist eng verbunden mit der Suche nach Wahrheit und dem Willen zur Wahrheit und gleichzeitig mit Liebe und einer Haltung liebevoller Sorgfalt. Die Wahrheit in Liebe tun heißt denn auch: Das eigene Leben gewissenhaft leben - aus einem gebildeten Gewissen heraus; und gleichzeitig in einer Weise, die das eigene Leben im Sinne von Zeugnis und Beispiel als Quelle für die Gewissensbildung anderer verstehen lässt. Wir sind Kardinal König in unserer Gewissensbildung zu großem Dank verpflichtet.

* Der Autor ist Professor für Ethik und Armutsforscher in Salzburg und London

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