Das Gewissen im Krankenhaus

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Ein Arzt und Moraltheologe holt das Gewissen aus dem Himmel abstrakter Begriffe zurück in die Mitte der Gesellschaft.

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Ein Arzt und Moraltheologe holt das Gewissen aus dem Himmel abstrakter Begriffe zurück in die Mitte der Gesellschaft.

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Sollte irgendjemand vermutet haben, dass das Thema "Gewissen" nur noch in gelehrten Abhandlungen für Theologiestudenten auftaucht - hier ist der in Buchform gepasste, erfrischende Gegenbeweis eines mitten im Leben stehenden Arztes und Moraltheologen: "Kann ich heute noch gewissenhaft handeln?" So wohltuend klar und präzise formuliert wie der Titel ist das ganze Buch von Stephan P. Leher. Sein Autor, Jesuit und Lehrbeauftragter für Medizinethik an der Universität Innsbruck, nähert sich mit Hilfe der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins dem schwierigen Begriff des "Gewissens" in verständlicher und moderner Sprache.

Ob das Gewissen nun "Stimme Gottes im Menschen" oder Produkt gesellschaftlicher Konvention ist - auf diesen Streit zwischen Theologen und Soziologen lässt sich Leher, gar nicht erst ein. Er fordert vielmehr: Der Mensch muss sich dazu entschließen, Gewissen zu haben. Gewissen definiert Leher als bewusstes inneres Zwiegespräch: "Gewissen ist die Freiheit, sich zu fragen, ob ich das, was ich tue, eigentlich auch tun will."

Aber existiert diese Freiheit überhaupt? Kann ich denn heute noch gewissenhaft handeln? Das klare "Ja" auf diese Frage macht Mut und überrascht - stammt es doch ausgerechnet aus einer hochtechnisierten Klinik: Leher hat unter seinen Kollegen an der Universitätsklinik Innsbruck eine sozialempirische Studie durchgeführt. Das Ergebnis: Ein Drittel der befragten Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger und Sanitäter erkennt einen Freiraum für eigenverantwortliche Entscheidungen und nutzt ihn auch - trotz des Leistungsdrucks und trotz der strukturellen Zwänge des Klinikalltags.

Welche Werte, Normen und religiöse Überzeugungen benützt das Gewissen, um zu überprüfen, ob Menschen gut und richtig handeln? Zur Beantwortung dieser Frage setzt der habilitierte Moraltheologe Leher weder auf die Vorgaben des Lehramts noch hält er sich mit Jammerei über den Werteverfall in der heutigen Zeit auf. Nach eingehender Analyse der "Europäischen Wertestudie" von Paul M. Zulehner und Hermann Denz stellt er vielmehr fest: Der steigende Bedarf an Solidarität in der Gesellschaft fordert immer stärker persönliche Überzeugung und Selbstverpflichtung von Christen heraus - jenseits von kirchengebundener Religiosität und vorgeformten traditionellen Antworten.

Christen müssen daher tiefer zu den Quellen ihres Glaubens, das heißt zur Heiligen Schrift, zurückkehren: Leher setzt diese Forderung gleich selbst in die Tat um und untersucht den Begriff "glauben" im Johannesevangelium. Sehr persönlich gehaltene Denkanstöße für Meditation in der Tradition ignatianischer Exerzitien runden das Buch ab. Nach dem Brückenschlag von Philosophie über empirische Sozialwissenschaft hinein in Bibelwissenschaft und Spiritualität kommt das Gewissen also wieder beim Einzelnen an, ohne dass es an gesellschaftlicher Bedeutung verliert.

So ganzheitlich hat sich das Gewissen schon lange nicht mehr in Buchform präsentiert. Nur die vielen Druckfehler trüben ab und zu das Lesevergnügen.

Kann ich heute noch gewissenhaft handeln? Ein theologischer Ausblick. Von Stephan P. Leher. Verlag Tyrolia, Innsbruck 2000, 192 Seiten, brosch., öS 248,-/e 16,80

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