Das Hasard mit der großen Gewissheit

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Die Wahrscheinlichkeitsrechnung soll Risiko zähmen. Aber die Illusion des Zukunftswissens steigert die Gefahren, statt sie zu senken: etwa bei Krisen.

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Die Wahrscheinlichkeitsrechnung soll Risiko zähmen. Aber die Illusion des Zukunftswissens steigert die Gefahren, statt sie zu senken: etwa bei Krisen.

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Es gehen ja die Meinungen darüber sehr auseinander, ob das Leben nun ein Spiel sei oder eben "kein Kinderspiel". Sichere Übereinkunft scheint aber zu sein, dass es etwas mit Glück zu tun oder mit der Vorsehung durch eine Macht, die sich nicht in den Karten schauen lässt (also auch am Spieltisch sitzt). Damit ist das Augenfällige schon gesagt: Das Leben ist mit oder ohne willentliche menschliche Tat eine Risiko-Veranstaltung - die sich in der Sphäre zwischen Glück und Pech abzeichnet.

Die Hirnforschung meint nun, wir seien nicht willens, diesen von Wechselfällen abhängigen Zustand zu akzeptieren, weshalb wir uns beständig auf der Suche nach logischen Zusammenhängen befinden. Die Wahrnehmung tastet die Umgebung quasi nach Mustern ab, um sich zurechtzufinden. Unangenehm kann das werden, wenn dabei Muster, Verbindungen und Sicherheiten erkannt werden, wo es gar keine gibt. Das passiert beispielsweise, wenn wir beim Würfelspiel meinen, wir müssten den Würfel ganz kräftig schütteln und kräftig werfen, um eine Sechs zu erhalten, oder ganz behutsam aus der Hand gleiten lassen, um eine Eins zu bekommen. Wir wollen dann den Zufall sozusagen mit einem Drall in Richtung Wunschvorstellung versorgen und ignorieren nobel, dass dem Würfel egal ist, wie er nun geworfen wird. Nun entspringen die Mechanismen, nach denen beispielweise die Finanzmärkte arbeiten, genau solchen Versuchen, den Zufall zu bezwingen - auf höherer, mathematischer und berechnender Ebene. Um exakt zu sein, wurde die Berechenbarkeit der Zukunft im 17. Jahrhundert auf Veranlassung eines Spielers erfunden, der nicht wahrhaben wollte, dass sein Glück nicht steuerbar ist.

Vom Würfelspiel zur statistischen Gesellschaft

Der Chevalier de Méré, ein passionierter Würfelspieler, engagierte die klügsten Köpfe seiner Zeit, da er einen Weg aus einer Pechsträhne finden wollte. Blaise Pascal und der Mathematiker Pierre de Fermat kümmerten sich um das Hasard-Problem - und erfanden dabei die Grundlagen der Wahrscheinlichkeitstheorie: Dass also bei einem sechsseitigen Würfel eine Zahl eine Wahrscheinlichkeit von eins zu sechs habe, geworfen zu werden. Weiters, dass sich diese Annahme bei mehr als tausend Wiederholungen tatsächlich als ein statistischer Mittelwert bestätigt, der sich auch grafisch darstellen lässt - in Form einer Gauß'schen Glockenkurve.

Dem Chevalier hat die Erkenntnis leider nicht geholfen, denn seine Strähne hielt an, und er musste sich mit der Schriftstellerei und der Poesie behelfen, um zu seinen Louisdoren zu kommen. Aber das mathematische Verfahren, das Pascal und de Fermat anwandten, ist heute noch üblich. Seit dieser Zeit greifen Risiko-Berechner zu diesem Verfahren und verbinden es mit einer weiteren Quelle: Der Statistik. Ihr Erfinder, Adolphe Quetelet, ein belgischer Mathematiker, machte sich unter dem Kopfschütteln seiner Zeitgenossen Ende des 18. Jahrhunderts auf, den "mittleren Menschen" zu berechnen. Er vermaß die Körper von 100.000 Soldaten und Rekruten und besorgte sich Daten zu "moralischen Eigenschaften wie "Eheschließung", "Selbstmord" und "Kriminalitätsrate". Aus diesen Berechnungen ergab sich ein durchschnittlicher Mann von 160 cm Körpergröße, verheiratet, mit einem 5-Prozent-Risiko, kriminell zu werden. Nun ergaben sich erstaunliche Parallelen zu den Glücksspielberechnungen von Pascal. Denn auch Quetelets Berechnung ließ sich grafisch in Form einer Gauß'schen Glockenkurve darstellen. Auf der gleichen Basis begann sich von da an eine regelrechte Vermessungswut zu entfalten, die bis heute anhält und von Krankheitsanfälligkeiten über die Risikobereitschaft von Investoren bis zu Nachwahlbefragungen und Ernährungsgewohnheiten von Einzellern reicht.

Was dabei herauskommt, sind berechenbare Risiken oder berechenbares Verhalten - welche allerdings nur bei langen Zeitfolgen und großen untersuchten Gruppen stichhaltig sind, auf das Individuum paradoxerweise aber nur selten in ihrer Gesamtheit zutreffen. Der mittlere Wert wird zur bestimmenden Referenzgröße, während der Rest als "Standardabweichung" gesehen wird, was unter Umständen äußerst missliche Folgen haben kann - wenn man nämlich über der Konzentration auf das allgemein Übliche das Besondere vergisst. Die Ökonomie hat beispielsweise ihr Hauptaugenmerk auf die mittlere Entwicklung der Märkte dazu verleitet, Krisen als "Abnormität" zu behandeln, die "wenig gefährlich sind". So zumindest erfahren das die Studenten der Ökonomie im einflussreichsten Lehrbuch der Volkswirtschaftslehre des US-Ökonomen Paul Samuelson. Zu so einem Trugschluss verleitet nicht so sehr zuviel Statistik, als vielmehr zuwenig: Eine einfache Kalkulation aller krisenhaften Erscheinungen zwischen 1850 und heute ergäbe etwa, dass alle 7,5 Jahre eine Krisen-Erscheinung auftritt.

Man fände es bei näherer Betrachtung vielleicht auch erstaunlich, dass die Logik der ersten Glücksspiel-Berechnungen ausgerechnet auf Finanzmärkten eine leitende Funktion hat. Dort handeln vermehrt nicht mehr menschliche Broker für ihre Kunden mit Vermögen, sondern mit Stochastik gefütterte Computer, die Trends erkennen und in Sekundenbruchteilen nutzen können. Das Verfahren, mit mathematisch gesicherten Formeln die Welt zu bestimmen, stößt aber im Krisenfall auf höchst riskante Grenzen. Denn der Computer erkennt auch den Börsencrash mit Massenverkäufen bloß als kalten Trend, dem er sich selbstverständlich anschließt und durch seine Fähigkeit, Milliarden in Sekunden umzusetzen, drastisch verschärft. Daraus ergibt sich nun ein weiteres Paradox: dass ausgerechnet ein Programm zur Vorhersage und Absicherung der Zukunft zum größten Unsicherheitsfaktor der Welt geworden ist.

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