Das horizontale Schisma

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Theologische Hintergründe und praktische Aspekte zur Lage der katholischen Kirche.

Die Veröffentlichung der Kirchenaustrittszahlen 2004 hat in den letzten Wochen zu lebhaften Diskussionen und Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit geführt. Bestimmte Wortmeldungen haben gezeigt, dass heute nicht von ungefähr von einer Spaltung gesprochen wird, die sich horizontal zwischen Kirchenvolk und Kirchenleitung auftut. Auch wenn die Vertreter der Kirchenleitung natürlich zum Volk Gottes gehören, scheinen sie doch zugleich gleichsam in einem anderen Lebens- und Erfahrungsraum zu stehen.

Die "Aura" der Mitra-Träger

Dass dies so ist, hängt zum einen mit der Eigenart des Beziehungs-raumes Mitra-tragender Personen zusammen. Natürlich spielt da einmal grundlegend eine Rolle, ob einer in "Sonderwelten" bestimmter Ordensgemeinschaften gelebt hat oder lebt. Wenn einer dann aber konkret im Amt steht (ohne damit verallgemeinern zu wollen): In den Beziehungen zu den Untergebenen sind heute nach wie vor "Zuckerbrot und Peitsche"-Erwartungen wirksam, "Insider-Katholiken" sind, sofern sie nicht selbst verletzt wurden, bemüht, keine Wunden zuzufügen, und ganz allgemein neigt "der Österreicher" noch immer dazu, Mitra-Träger in eine Art "Aura" gehüllt zu sehen, die einen zumindest distanziert-höflichen Umgang erfordert (solange handfeste politische Interessen nicht anderes nahe legen).

Sehr stark wirkt sich der "Filter" aus, der dem Wahrnehmungsvermögen vieler Amtsträger eingebaut ist. Es ist ja kein Geheimnis, dass viele der Kandidaten für ein kirchliches Amt nach ganz bestimmten Kriterien ausgewählt werden: Eine Spiritualität ist gefragt, in der die Haupttugend Gehorsam mit einem Kirchenbild des "Oben und Unten" einhergeht, und eine Theologie, die zwar, so heißt es, aus den "Quellen" schöpft, damit in Wirklichkeit aber die "stets gleichbleibende Lehre" der "Bunkerphase" der Kirche zwischen 1850 und 1950 meint. Wer alles, was ihm an Äußerungen begegnet, durch diesen "Filter" wahrnimmt, kann gar nicht anders: Er wird Auffassungen, die den eigenen Einstellungen und Haltungen nicht entsprechen, einfach für falsch halten, und die Menschen, die sie vertreten, im besseren Fall wie Kinder betrachten, die noch nicht reif genug sind, die Wahrheit zu sehen, oder, in der bedenklicheren Variante, für Sünder, die im Bösen verstockt sind. Dann ist es nur mehr ein kleiner Schritt zum Verständnis von Kirche als "rettendem Balken im Schiffbruch der Welt" (Rahner).

Kirche krank geredet?

Im Folgenden soll versucht werden, den theologischen Denkhintergrund am Beispiel der kirchlichen Moralverkündigung noch ein wenig aufzuhellen. Auf diesem Gebiet sind die pastoralen Defizite noch verhängnisvoller als im Bereich des Schriftverständnisses und der Glaubensverkündigung (wo sie sich meist biografisch eher über einen längeren Zeitraum hin auswirken).

Vor kurzem hat ein österreichischer Bischof geäußert, man möge "die Kirche" nicht krank reden. Nein, das sollte, dürfte man wirklich nicht tun. Denn es wird in der Kirche, Gott sei Dank, vielfach gut erzogen und gebildet: vom eigentlichen Subjekt der Verkündigung nämlich, vom Volk Gottes. Die Kirche verkünde eine hoch stehende, anspruchsvolle Moral, sagte ein anderer Bischof irgendwann, und da waren mit Kirche die Bischöfe gemeint, als Subjekte der kirchlichen Lehrverkündigung in "Sittenfragen". Ist die kirchliche Moralverkündigung "hoch stehend", "anspruchsvoll"?

Diese "schwere" Moral ...

Es ist bezeichnend, dass dieses "anspruchsvoll" häufig mit der Bewertungsskala "leicht-schwer" in Zusammenhang gebracht wird. Erst unlängst wieder, als ein Bischof in einer Fernsehdiskussion sagte, man solle nicht meinen, die Probleme würden gelöst, wenn man "alles leichter mache". Das erinnert an die Erfahrung, dass manche Menschen laut singen für schön singen halten, was man ja nicht gerade als Zeichen reifen musikalischen Verständnisses werten können wird. Sittlich gute menschliche Handlungen gewinnen ihren Wert nicht aus dem Aufwand an Leistung, der sie hervorgebracht hat. Auch nicht von der Bewertung her, die sie durch irgendeinen Richter erhalten. Sie haben ihren Wert in sich selbst, weil sie "gut tun", und zwar demjenigen, dem sie getan werden, und demjenigen, von dem sie getan werden. Weil sie ihn ein Stück menschlicher machen! Werden sie (nur) mit Schielen auf Lohn oder im "knechtischen Gehorsam" getan, gleichsam so, wie ein Ochse im Joch gleichmütig oder verdrossen seine Last zieht, sind sie nichts wert. Wert ist - für den Menschen und daher auch vor Gott -, was aus Liebe geschieht, also: wenn es dem Handelnden um den geht, an dem er handelt.

Die derzeitige kirchliche Moralverkündigung entspricht einer Moralpädagogik für unmündige Kinder (die freilich pädagogisch so auch noch defizitär wäre!). Sie lehrt Normen, das heißt: konkrete Handlungsanweisungen für den konkreten Fall sittlicher Entscheidung. Besser müsste man sagen: Für Situationen, in denen sittliche Entscheidungen fällig wären, die aber von den Katholiken im Gehorsam gegenüber einem Lehramt "bewältigt" werden sollen, das sich (meist) nicht mit Sachgründen, sondern rein formal gleichsam als göttliches Orakel ausweist.

Für eine vorgegebene konkrete Verhaltensanweisung eine inhaltliche Begründung zu geben, ist, wenn diese allgemein gültig sein soll, gar nicht möglich. Das wussten die Moraltheologen längst. Absolut gültig sind die obersten sittlichen Prinzipien menschlichen Handelns (wie z.B., dass man eine menschliche Person nicht wie eine Sache benützen darf, um einen Zweck zu erreichen). Schon die Konkretisierung dieser Prinzipien in den 10 Geboten bedarf einer Auslegung, und deren Anwendung in eine konkrete Situation hinein ist vollends Sache der verantwortungsvollen Abwägung im Gewissensurteil des Einzelnen.

Eine kirchliche Moralverkündigung für Erwachsene kann nur Prinzipien, Handlungsgrundsätze vorlegen und muss sie entsprechend inhaltlich begründen. (Das ist auch der Bereich der unfehlbaren Lehrverkündigung der Kirche in Glaubens- und Sittenfragen. Sie hat zu zeigen, wie die Grundsätze christlichen Handelns mit der Frohbotschaft zusammenhängen und sich aus ihr ergeben.) Die Lehrinstanzen müssten heute so verfahren, auch wenn manche oder viele erwachsene Katholiken, was ihr sittliches Bewusstsein anlangt, noch Kinder sein mögen. Und sie können es auch ohne Angst tun, weil sie, wie schon gesagt wurde, nicht die einzigen und entscheidenden Instanzen kirchlicher Glaubensbildung sind. Tun sie es nicht, ist heute in westlich geprägten Gesellschaften höchste Gefahr in Verzug.

Neue Gestalt der Kirche

Es drängt mich, abschließend noch einen Appell zu formulieren. Mag sein, dass die katholische Kirche in der bei uns vertraute Gestalt im Vergehen ist. Sie wird eine neue Gestalt gewinnen. Nur wird das nicht ohne die vielen Katholiken geschehen können, die schon heute in einer in der Geschichte noch nie da gewesenen Weise in ihr engagiert sind. Und es wird vor allem auch nicht ohne die intellektuellen Katholiken geschehen können.

"Auftreten, nicht austreten!", mahnte der Papst seinerzeit in St. Pölten. Auch wenn das ein Ghostwriter geschrieben haben sollte - wir sollten es beherzigen!

Der Autor ist Priester der Erzdiözese Wien und emeritierter Professor für Religionspädagogik.

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