Das Ich ist ein Anderer

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Den Menschen können wir erst dann, und nur dann, für sich selbst und für alle Mitmenschen verantwortlich machen, wenn wir uns auf einen reflexiven und selbstbewussten Menschen berufen. Verantwortlich können wir den Menschen für seine Dinge, die er getan hat, tut oder tun wird, dann machen, wenn wir uns auf seine menschliche Existenz -seine Seinsweise - besinnen. Dafür müssen wir den essenziellen Charakter des Menschen ablehnen: Der Mensch ist nicht von einer vorgegebenen und vorgegaukelten Ordnung bestimmt, wodurch er seiner Freiheit beraubt wird. Eine solche mögliche Wirklichkeit würde den Menschen einschränken zu handeln. Er wäre seinem unentrinnbaren Schicksal ergeben. Er würde auf ein Objekt reduziert werden, welches in der Rückwendung auf sich selbst zu leben scheint. Darüber hinaus entzieht ihm diese Objektivierung seine Würde, die ihm als Subjekt zustehen sollte.

Die Botschaft ist klar: Der Mensch ist nicht mehr, als er zu sein scheint. Heißt das, dass der Mensch etwas oder nicht vielmehr nichts ist? Der Mensch hat keine notwendigen Eigenschaften, die ihn zu dem machen, was er ist -jemand sein und nicht viel mehr nichts, somebody und nicht etwa something. Der Mensch ist zu nichts bestimmt. Er hat kein Schicksal.

Wir müssen den Glauben an Gott in einen Glauben an den Menschen konsequent transformieren -das Verständnis des Menschen ist unabdingbar, damit die Existenz seinem Wesen vorausgeht: Der Mensch ist für das, was er ist, immer verantwortlich. Immer! Der Mensch als Summe seiner Handlungen kann nicht nicht verantwortlich sein. Denn jede Wahl, die man trifft, trifft man nicht nur für sich selbst, sondern immer zugleich auch für andere. Diese Wahl ist an eine absolute Verantwortung gebunden. So entdeckt der Mensch, dass die anderen die Bedingung seiner eigenen Existenz sind. Und im Bewusstsein dessen, dass der Mensch ohne seine Mitmenschen nichts wäre und zu keiner Wahrheit kommen würde, braucht er die Anerkennung der anderen. So begreifen wir erzwungenermaßen, dass der Menschen ein humanes Wesen ist: Durch jede unserer Entscheidungen entscheiden wir nicht nur über unser eigenes Leben, sondern auch über das Leben anderer.

Militarisierte Pufferzone

Die Grenzen zwischen den Lebensbereichen, die die Entscheidenden kreieren, sind weder strittig noch fließend. Der Mensch ist ein Wesen, das nicht in einer räumlich festen Ordnung eingeschlossen ist, sondern das sich vielmehr auf bestimmte Weise zu seinen eigenen Grenzen verhält. Also ist die Hölle kein Ort einer imaginierten Genugtuung, kein Ort exzessiver Fantasien, sondern viel mehr die militarisierte Pufferzone, das Niemandsland, das undurchdringliche Minenfeld, das sich zwischen den Ordnungen und jenseits der Ordnung ausbreitet -das ist die Hölle und die Geburtsstätte des Fremden zugleich.

Wir machen immer wieder die Erfahrung, dass wir uns selbst fremd bleiben. Vertrautheit mit sich selbst ist keine Garantie für Selbsterkenntnis, sondern Anlass zu Illusionen. Deshalb suchen und fürchten wir das Urteil anderer: Der Blick des anderen vermag oft etwas zu sehen, was ich nicht zu sehen vermag. Der andere mag hässliche Dinge sehen, die ich selbst nicht sehen kann oder will. Deshalb ist der Blick des anderen, die Nähe des anderen, die Hölle. Das regarder de l'autre ist der regulative Blick des Eigenen. Es ist eine Allmachtfantasie des Selbst, als wäre es Zentrum, und alles dreht sich um es, und weil es sich exponiert sieht, ist es gefährdet.

Aber auch die Urteile der anderen sind fehlbar. Es ist unwahrscheinlich, dass wir andere besser kennen als uns selbst. Es gibt immer einen Rest von Kontingenz, unverstandener Sinngehalte, unscharfe Referenzrahmen; es gibt keine absolute Selbstkontrolle darüber, wer ich bin. Auch deshalb bleibt mir oft nichts anderes übrig als zu entscheiden, mich zu engagieren, mich auf etwas festzulegen, mit dem Risiko, dass ich dabei nicht das Beste wähle, weil es fertige und objektive Werte oder eine vorgegebene Bestimmung oder göttliche Vorbestimmung des Menschen nicht gibt. Das Ich ist ein Anderer, weil die Fremdheit im eigenen Haus beginnt. Der Versuch, Grenzen zu überschreiten, ohne sie aufzuheben, gehört zu den Abenteuern einer Fremdheit zwischen den Kulturen.

| Der Autor war Stipendiat des Philosophicum Lech 2018 |

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