"Das ist Befreiung und Zumutung zugleich"

19451960198020002020

Die Gesellschaft wandelt sich -und viele kommen damit nicht zurecht. Ein Neujahrsgespräch mit der Philosophin Isolde Charim über "Gelbe Westen", bröckelnde Institutionen und das mögliche Ende Europas.

19451960198020002020

Die Gesellschaft wandelt sich -und viele kommen damit nicht zurecht. Ein Neujahrsgespräch mit der Philosophin Isolde Charim über "Gelbe Westen", bröckelnde Institutionen und das mögliche Ende Europas.

Werbung
Werbung
Werbung

Neues Jahr, neue Vorsätze, neue Erwartungen - und die Frage: Wo stehen wir? Nicht nur privat, sondern auch gesellschaftspolitisch. Was kommt auf uns Österreicherinnen und Österreicher, auf uns Europäer zu -und was können, müssen wir hinter uns lassen? Die FURCHE hat darüber mit der Wiener Philosophin Isolde Charim gesprochen, die im vergangenen Jahr für ihr Buch "Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert" (Zsolnay) den Philosophischen Buchpreis erhalten hat. Im Gespräch erklärt die Wissenschaftlerin, warum die Begegnungszone auf der Mariahilfer Straße ein Vorbild für unser künftiges Zusammenleben sein kann und weshalb die "Gelben Westen" ein Sinnbild für den gesellschaftlichen Umbruch sind.

DIE FURCHE: Frau Charim, halten wir es in der Einstiegsfrage mit einem Zitat von Golo Mann: "Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Zukunft nicht verstehen." Deshalb ein kurzer Rückblick: Welche Ereignisse des vergangenen Jahres sind in Ihren Augen gesellschaftspolitisch besonders prägend?

Isolde Charim: National gesehen ist das die Konsolidierung der schwarz-blauen Regierung. Sie ist mit Getöse angetreten, war tollpatschig, ist gestolpert. Aber jetzt beginnt sie das Land professionell umzubauen.

International gesehen halte ich drei Begebenheiten für ausgesprochen relevant: Erstens, den Beginn der Abdankung von Angela Merkel. Zweitens, die Stärkung und Ausbreitung des Rechtspopulismus. Drittens, das Auftauchen der "Gelben Westen".

DIE FURCHE: Sie gewichten die "Gelben Westen" im selben Maße wie Merkels Rückzug und das Erstarken des Rechtspopulismus - das ist überraschend.

Charim: Ja, denn die "Gelben Westen" sind ein Symptom unserer Zeit. Das ist eine Eruption von politischen Energien, die vorhanden, spürbar ist. Die Protagonisten der Bewegung wollen sich aus der bisherigen Gesellschaft verabschieden. Wie im Übrigen die Rechtspopulisten auch. Im Grunde verlieren derzeit so gut wie alle integrierenden Institutionen an Bindekraft. Schauen Sie sich Europa an! Es kann passieren, dass Europa scheitert.

DIE FURCHE: Die "Gelben Westen" als Sinnbild des gesellschaftlichen Umbruchs? Charim: Wenn Sie so wollen, ja. Wir sind in einer Übergangszeit und wissen nicht, worauf sie hinausläuft.

DIE FURCHE: Damit sind wir wieder mitten in der Gegenwart gelandet. Welche Folgen ergeben sich zwangsläufig aus den besprochenen Faktoren für 2019 oder darüber hinaus?

Charim: Mit Prognosen will ich mich zurückhalten. In puncto Österreich ist allerdings klar: Es ist ein schleichender Prozess, aber die problematischen Dinge verdichten sich. Damit meine ich die Stimmung, die Akzeptanz und die Diskurse, die sich nachhaltig verschieben.

DIE FURCHE: Nennen Sie uns dafür ein paar konkrete Beispiele!

Charim: Nehmen wir die Diktion des Bundeskanzlers "Es gibt Hilfe, für die, die es verdienen". Aber was ist dann mit denen, die Hilfe brauchen, sie aber laut Definition von Sebastian Kurz nicht verdient haben? Oder anders herum: Muss man sich erst verdient gemacht haben, bevor man um Hilfe bitten darf? Dann die Kopftuchdebatte. Keine Frage, Kopftücher bei kleinen Mädchen finde ich auch schwierig. Da würde ich aber die Schulen in die Pflicht nehmen und nicht die Gesetzgebung. Denn: Im Grunde geht es doch darum, dass gerade das Kopftuch ein volles Zeichen der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft ist. In Wahrheit ist das doch das Problem, das viele mit diesem Zeichen haben. Der Staat kann den Leuten nicht vorschreiben, was ein gutes Leben ist. Da hat er sich zu enthalten. Auch wenn der Gedanke für viele schwer auszuhalten ist. Auch den ORF will ich nicht unerwähnt lassen. Dort kündigt sich ein schrittweiser Umbau an.

DIE FURCHE: Auch der öffentliche Rundfunk als eine solche Institution, die an Bindekraft verliert und damit den gesellschaftlichen Umbruch aufzeigt? Wie erklären Sie sich diese Tendenz des gesellschaftlichen Auseinanderdriftens?

Charim: Die Bevölkerung setzt sich vielfältig zusammen. Und wir beginnen gerade erst zu verstehen, wie grundlegend der damit verbundene Wandel ist. Das sind sehr massive Veränderungen, die für jeden Einzelnen und jeden Tag spürbar sind. Gesellschaften bieten eine Art Koordinatensystem. Das ermöglicht den Leuten, sich zu orientieren, sich zurechtzufinden. Doch diese Koordinatensysteme sind ins Wanken geraten. Jetzt muss der Einzelne mehr Leistung bringen, um in der Welt bestehen zu können. Für die einen ist das eine Befreiung - für die anderen eine Zumutung.

DIE FURCHE: Leistung bringen im Sinne von Anstrengung?

Charim: Gemeint ist, dass jegliche Beständigkeit bröckelt, und dass jedes Individuum auf sich gestellt ist, um auf Umbrüche zu reagieren. Ein Beispiel: Es gelten keine lebenslangen Verhältnisse mehr, privat wie beruflich. Ich kann weder davon ausgehen, dass meine Ehe hält, bis dass der Tod uns scheidet, noch, dass ich bis zur Pension meinen derzeitigen Arbeitsplatz behalten kann. Und es geht noch weiter: Es gibt auch kein eindeutiges Bild mehr, wie ein Österreicher ausschaut. Es gibt auch keine eindeutige Zuordnung, was männlich und was weiblich ist. Bewusst wiederhole ich mich an dieser Stelle: Für die einen ist das eine Befreiung - für die anderen eine Zumutung.

DIE FURCHE: Welchen Ursachen identifizieren Sie für den Wandel?

Charim: Das ist eine heikle Mischung. Die Migration ist eine der Gretchenfragen der Epoche. Aber nicht die einzige. Auch die Phänomene Digitalisierung, Pluralisierung und die kapitalistische Beschleunigung zählen dazu. Alles, was die Verhältnisse untereinander verändert oder verändert hat, führt zum Umbruch.

DIE FURCHE: Hat die Philosophie eine Antwort auf diese massiven Veränderungen?

Charim: Damit würde man die Philosophie überstrapazieren. Philosophen analysieren, werfen Fragen auf. Geht es um Antworten, ist die Politik am Zug. Dabei geht es aber nicht darum, den gesellschaftlichen Wandel zu stoppen oder umzulenken. Es geht darum, ihn angemessen zu moderieren. Das wäre das wünschenswerteste Szenario. DIE FURCHE: Historisch gesehen haben sich Gesellschaften immer wieder unterschiedlichsten Veränderungen stellen müssen. Kann die Kraft nicht auch aus der Bevölkerung selbst kommen?

Charim: Man kann tatsächlich auf etwas setzen: auf Gewöhnung. Dafür braucht es Zeit. Das Entstehen von Gewohnheiten ist ein unglaublich wichtiger gesellschaftlicher Faktor. Das kann vielleicht etwas bringen. DIE FURCHE: Wir müssen uns erst alle aneinander gewöhnen und dann kommen wir auch mit unseren Gegensätzen zurecht?

Charim: Im besten Falle. Schauen Sie sich die Begegnungszone auf der Wiener Mariahilfer Straße an. Wir haben unterschiedliche Verkehrsteilnehmer, die miteinander auskommen müssen, ohne einander gleich zu werden. Es entsteht ein Auskommen, keine Solidarität. Es wäre schon ein Gewinn für die Gesellschaft, wenn das funktionieren könnte.

DIE FURCHE: Ist Scheitern denkbar?

Charim: Das Thema Scheitern ist für sich betrachtet bereits ein Thema. Es gibt in unserem kapitalistischen Zeitalter keine Erzählung mehr dafür, wie man damit umgeht, wenn man gescheitert ist. Es gibt keine Strukturen mehr, die Scheitern auffangen. Heute ist Scheitern etwas ganz Individuelles.

DIE FURCHE: Was bedeutet das im Falle der von Ihnen beschriebenen pluralisierten Gesellschaft?

Charim: Wenn die Strukturen, die das Scheitern von Lebenswegen auffangen, erodieren, dann droht gerade in einer pluralisierten Gesellschaft das, was für eine solche Gesellschaft Gift ist: der Rückzug in die verschiedenen Parallelgesellschaften.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung