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Das Juwel in der Lotosblüte

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Erst im Mittelalter gelangte der Buddhismus nach Tibet. Auch diese Spielart der Weltreligion fasziniert viele im Westen: Streiflichter aus einer dennoch fremden Spiritualität.

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Erst im Mittelalter gelangte der Buddhismus nach Tibet. Auch diese Spielart der Weltreligion fasziniert viele im Westen: Streiflichter aus einer dennoch fremden Spiritualität.

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Om mani peme hung, om mani peme hung''. Schier endlos rezitieren Tibeter dieses Mantra, wenn sie die großen, bis zu zwei Meter hohen Gebetsmühlen oder ihre kleinen Handgebetsmühlen in Bewegung setzen. Die Übersetzung klingt banal: „Juwel in der Lotosblüte”. Doch verschiedene Interpretationen schwingen dabei mit: das Juwel ist der Geist der Erleuchtung, der im Lotos des menschlichen Bewußtsein erzeugt werden soll. Zum anderen symbolisiert es die absolute Wirklichkeit, die allem Seienden innewohnt. Und drittens bezieht es sich auf den Diamanten, den der vierarmige Avaloki-teshvara, die Schützgottheit Tibets, in seinen Händen hält.

Dieser ist ein Bodhisattva, ein transzendentes Wesen, das die Erleuchtung bereits erreicht hat, jedoch auf das Eingehen ins Nirvana, die vollständige Erlöstheit, verzichtet, um anderen Menschen auf ihrem Weg zum Heil zu helfen. Die Eigenschaft von Avalokiteshvara ist grenzenloses Erbarmen. Er wird daher von den Tibetern besonders gern um Hilfe angerufen. Auch in der Meditation wird sein Mantra rezitiert und dabei mit Hilfe der Mala, der Gebetskette, gezählt. Dadurch soll die Qualität des Avalokiteshvara im Übenden entstehen.

Weisheit und Mitgefühl sind die beiden wesentlichen Ziele des Tibetischen Buddhismus. So sind auf den Gebetsmühlen Segenswünsche eingraviert, die sich durch das Drehen über die ganze Erde und auf alle Lebewesen verteilen. Das gleiche Prinzip gilt für die bunten Gebetsfahnen, die an langen Leinen quer über Wegen und Straßen hängen und mit Gebeten bedruckt sind. Der Wind nimmt diese in alle Himmelsrichtungen mit sich. Der Buddhismus ist daher kein „Autoerotismus”, also eine Beligion, in der sich der einzelne nur mit seiner eigenen Erlösung beschäftigt, wie es von einem hohen Kirchenvertreter behauptet wurde. Gerade im Tibetischen Buddhismus besitzt das Bodhisattva-Ideal, anderen Menschen zu helfen, hohen Stellenwert.

1200 Jahre nach Buddha

Der Buddhismus wurde im 8. Jahrhundert n. Chr. erstmals von indischen Missionaren in Tibet eingeführt. Die Lehre des historischen Stifters Buddha Gautama war zu diesem Zeitpunkt be'reits 1200 Jahre alt und hatte einige Weiterentwicklungen erfahren.

Die grundlegenden Lehrsätze, die vier Edlen Wahrheiten, waren jedoch gleich geblieben. Der Mensch ist durch die Unbeständigkeit des Lebens, durch Trennungen, Krankheit, Alter und Tod dem Leiden unterworfen. Die Ursache des Leidens liegt in der menschlichen Gier nach Genuß und Besitz. Indem man seine Begierden zum Erliegen bringt, kann man das Leiden beenden. Der Buddhismus lehrt einen Weg aus sittlichem Verhalten und meditativer Übung, der zu tiefem inneren Gleichmut und damit zur Auflösung des Leidens führt. Gemäß dem Karma-Gesetz von Ursache und Wirkung ist jeder für seine Lebensumstände selbst verantwortlich, kann jedoch sein Bewußtsein im Laufe seiner Lebens läutern und so schließlich den Wiedergeburten -kreislauf beenden.

Die Einführung der indischen Lehre in das von der schamanistischen Bön-Religion dominierte Tibet war jedoch nicht einfach. Es bedurfte dazu der magischen Zauberkräfte des Padmasambhava, der die traditionellen Gottheiten und Dämonen bezwang und sie in den Dienst des Buddhismus stellte. Wirklich heimisch wurde die neue Religion ab dem 11. Jahrhundert, als ein Großteil des Schrifttums aus der indischen Gelehrtensprache Sanskrit ins Tibetische übersetzt wurde.

Bis ins 14. Jahrhundert entstanden die vier großen Hauptschulen des Tibetischen Buddhismus mit unterschiedlicher Akzentuierung von philosophischer Lehre urfd meditativer Praxis. Die Klöster entwickelten sich jedoch auch zu politischen Machtzentren, die

Äbte regierten als Feudalherren große Ländereien und waren in Kämpfe um die Vorherrschaft verstrickt. Das fünfte Oberhaupt der Gelugpa-Schule, Dalai Lama genannt, sicherte sich im 17. Jahrhundert die Herrschaft über ganz Tibet.

Führung und Spaltung bis in die Gegenwart

Seitdem ist der Dalai Lama der spirituelle und politische Führer Tibets. Er gilt als Inkarnation des Bodhisattva Avalokiteshvara und zugleich als Wiedergeburt des vorangegangenen Dalai Lama. Dieses Tulku-System wurde im 13. Jahrhundert eingeführt, die religiöse und machtpolitische Kontinuität der Klöster wurde dadurch bewahrt. Aufgrund von Vorhersagen oder Orakelsprüchen wird ein Knabe aufgefunden, der in verschiedenen Prüfungen beweisen muß, daß er die Reinkarnation seines Vorgängers ist. Dieses System war jedoch immer auch anfällig für Mißbrauch. Oft wurden nahe Familienangehörige des Abtes zu Tulkus erklärt oder junge, unliebsame Rein-karnationen einfach umgebracht.

Das feudalistische Denken hat sich bei vielen Lamas und Äbten bis in die heutige Zeit erhalten. Nachdem viele 1959 mit dem Dalai Lama vor den Chinesen ins Exil geflohen waren, brachen etliche Ende der 60er Jahre nach Europa und Amerika auf, um neue Anhänger und damit neue Einflußkreise zu gewinnen. Der Tibetische Buddhismus gewann rasch an Popularität, vor allem durch den unermüdlichen Einsatz des Dalai Lama für die Freiheit seines Landes. Doch es tauchten auch systemimmanente Probleme auf. So gibt es beispielsweise in der Kagyüpa-Schule, die unter ihrem 16. Leiter einen großen Anhängerkreis im Westen gewann, heute zwei Knaben, die jeweils als Oberhaupt verehrt werden.

Die Traditionslinie ist de facto gespalten und mit ihr die westliche Schülerschar. Machtstreben hoher Lamas im Hindergrund dürfte die Ursache sein. Außerdem wurden immer wieder Fälle von sexuellem Fehlverhalten bis hin zu Mißbrauch durch religiöse Lehrer publik. Vor kurzem bekannte etne Religionswissenschafte-rin, daß sie von einem berühmten tibetischen Lama trotz dessen Zölibatgelübdes zu einem geheimen sexuellen Verhältnis genötigt worden war. Und in der Schule des toleranten Dalai Lama ist es wegen des Verbots einer traditionellen 'Schutzgottheit inzwischen zur Spaltung gekommen.

Im Westen erfolgreiche Lamas wollen sich anscheinend nicht mehr den Wünschen ihres Oberhauptes beugen. Und nicht zuletzt leiden die Exiltibeter unter dem immer stärker werdenden Einfluß der westlichen Kultur: Michael Jackson und McDonalds verdrängen Dalai Lama und Gebetsmühle. So ist der Tibetische Buddhismus heute auf einer Gratwanderung zwischen Bewahrung der Lehre und Anpassung an ein neues Zeitalter.

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