Das Kreuz mit dem rechten Appetit

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14-Jährige, die aus allen Nähten platzen: Nicht nur in den USA häuft sich dieses Bild. Die Weltgesundheitsorganisation klassifiziert Fettsucht bei Jugendlichen bereits als "globale Epidemie". Doch auch Essstörungen wie Bulimie und Magersucht sind im Steigen begriffen.

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14-Jährige, die aus allen Nähten platzen: Nicht nur in den USA häuft sich dieses Bild. Die Weltgesundheitsorganisation klassifiziert Fettsucht bei Jugendlichen bereits als "globale Epidemie". Doch auch Essstörungen wie Bulimie und Magersucht sind im Steigen begriffen.

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Live und mit tatkräftiger Hilfe von Margarethe Schreinemakers kämpfen zwölf pfundige Deutsche seit Sonntag gegen ihr Übergewicht. "Big Diet" heißt jenes voyeuristische Spektakel, mit dem der TV-Sender RTL 2 dem Fernsehpublikum 105 Tage lang das Abnehmen schmackhaft machen - und die Einschaltquoten an die Spitze treiben - will. Der Hintergrund für die umstrittene Reality-Show ist freilich ernst: 300 Millionen Erwachsene sind weltweit von Adipositas (krankhafter Fettsucht) betroffen. Auch in Österreich sind fast 15 Prozent der Bevölkerung übergewichtig, etwa neun Prozent der Jugendlichen über 20 Jahren weisen sogar ein schweres Übergewicht auf. Viele Kinder platzen aus allen Nähten: Es ist keine Seltenheit, dass schon 14-Jährige über 100 Kilo auf die Waage bringen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO spricht bereits von einer globalen Epidemie, einem neuen Krankheitsbild bei Jugendlichen, das über die USA und Australien nun auch nach Europa kommt. Solange Fast Food und Naschereien unkontrolliert verschlungen werden, ist dagegen kein Kraut gewachsen.

Dieses Essverhalten muss so früh wie möglich geändert werden, sind sich alle Experten einig - sowohl im Elternhaus als auch in der Schule. "Bei Kindern und Jugendlichen fällt oft das Frühstück aus, die wichtigste Mahlzeit des Tages. Sie verlassen ,nüchtern' das Haus", gibt Universitätsprofessor Ibrahim Elmadfa vom Institut für Ernährungswissenschaften der Universität Wien zu bedenken. In der Schule werden dann Chips und Cola verschlungen. Auch die geregelten Mahlzeiten mit den Eltern fallen - da viele von ihnen berufstätig sind - immer öfter aus. Statt dessen wird eben der Kühlschrank geplündert. Wenn dann ein Kilo nach dem anderen an Bauch und Schenkeln festsitzen, beginnt ein Teufelskreis.

Mit zunehmendem Gewicht bewegen sich die Kinder schwerer und immer weniger, die Kleider passen ihnen nicht mehr, sie haben Hemmungen, ins Bad oder tanzen zu gehen. Schließlich ersetzen Fernseher und Computer die Freunde. Ein Drittel der übergewichtigen Kinder und Jugendlichen hat Schulprobleme und Kontaktschwierigkeiten.

Risiko Übergewicht "In der Folge treten bereits im jugendlichen Alter ernste Gesundheits-probleme auf", warnt Professor Kurt Widhalm von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde in Wien. "Die Folge ist erhöhter Blutdruck, erhöhter Cholesterin- und Harnspiegel, Gelenksbeschwerden, ein erhöhtes Risiko, später an Diabetes und Herzkreislaufstörungen zu erkranken und schließlich auch psychische Probleme." Deshalb wurde an der Klinik eine Ambulanz für Fettstoffwechsel, Ernährung, Adipositas eingerichtet. "Hier lernen die Jugendlichen unter Anleitung eines multidisziplinären Teams, bestehend aus Ärzten, Psychologen, Er-nährungstherapeuten und Sporttherapeuten, wie sie ihr Leben umstellen können. "Das ist ein langsamer Prozess, der von allen viel Geduld verlangt", ermuntert Widhalm, nicht gleich aufzugeben, wenn die Kilos so gar nicht purzeln wollen.

Aber auch das Gegenteil der Fettsucht, die Magersucht, kann gefährlich werden. Europaweit sind davon immer mehr Jugendliche betroffen, nicht nur "eitle" Mädchen, sondern auch zunehmend Burschen. Modetrends, Vorbilder im positiven aber auch im negativen Sinn - "nur nicht dick werden wie die Mutter" - können die Ursachen dafür sein. Ob Fettsucht, Magersucht durch extremes Fasten (Anorexie) oder Bulimie (Essorgien und bewusst herbeigeführtes Erbrechen): Meist handelt es sich um psychogene Essstörungen. Als Folge eines übertriebenen Fitnesskults tritt bei Jugendlichen immer häufiger auch die "Anorexia athletica" auf; die Experten sprechen bereits von "Sportler-Sucht". Diese Trainingssucht ist häufig mit Magersucht gekoppelt: Es wird zu viel, zu intensiv und ohne Rücksicht auf die Gesundheit trainiert.

Wohlstandsfalle "Ein Grund für psychogene Essstörungen liegt sicher in unserer satten Wohlstandsgesellschaft. Es ist das Überangebot an Nahrungsmitteln, das entweder zu einem übermäßigen Konsum oder zu einer totalen Verweigerung führt", ortet der Schweizer Psychiater Walter Pöldinger die Einflüsse von Umwelt und Vorbildern und spricht daher auch von einer "sys-temischen Erkrankung". Gute Behandlungserfolge seien vor allem dann zu beobachten, wenn die Jugendlichen aus ihrem Milieu herausgenommen werden und etwa ein Jahr bei Verwandten oder Freunden verbringen beziehungsweise einen Studienaufenthalt im Ausland absolvieren. Dadurch werde eine Distanz zu den festgefahrenen Lebensabläufen, zu Beziehungskonflikten und persönlichen Spannungen gewonnen, die eine Rückkehr zu einem normalen Leben erleichtert.

Lifestyle, Wellness, Fitness: die Begriffe sind in aller Munde. Doch die gesunde Ernährung, die ausgeglichene Lebensweise, die natürliche körperliche Betätigung scheinen für viele heutzutage schwieriger zu sein denn je. Dass Spektakel wie "Big Diet" das unverkrampfte Verhältnis zum eigenen Körper(-gewicht) erleichtern, darf jedoch bezweifelt werden.

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