Das kurze Buch zur großen Wanderung

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Noch bevor die Massenmigration zum dominierenden europäischen Thema wurde, hat der britische Ökonom Paul Collier sein Buch "Exodus" vorgelegt. Nun ist es als Taschenbuch erschienen - und Colliers Überlegungen erweisen sich als brennend aktuell.

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Noch bevor die Massenmigration zum dominierenden europäischen Thema wurde, hat der britische Ökonom Paul Collier sein Buch "Exodus" vorgelegt. Nun ist es als Taschenbuch erschienen - und Colliers Überlegungen erweisen sich als brennend aktuell.

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Migration ist ein großes Themenfeld und dies ist ein kurzes Buch." So beginnt das Abschlusskapitel von Paul Colliers Buch "Exodus". Es ist kurz, aber gehaltvoll und will zeigen, wie Migration unsere Welt verändert. Seine Aktualität gewinnt es, paradoxerweise, durch sein Ersterscheinungsdatum 2013. Es ist also nicht unter dem Eindruck der oft so genannten "Völkerwanderung" entstanden, die einzelne Länder Europas 2015 zu erleben begannen.

Der Autor, Paul Collier, ist Ökonom, Direktor des "Centre for Study of African Economics" (Oxford University) und Enkel eines Migranten (aus Deutschland). Ausgangspunkt seiner Analyse ist die Hypothese, dass Migration in absehbarer Zukunft deutlich zunehmen wird. Die Ursachen für diese Entwicklung, die sich beschleunigt fortsetzen werde, sind vielfältig: zum einen sind es Einkommensunterschiede zwischen "armen" und "reichen" Ländern, die Wahrnehmung dysfunktionaler sozialer Systeme in den Quellländern der Migration -und die Größe der Diaspora, die in den Zielländern existiert. Letztere erleichtert die Migration, weil die neuen Migranten Anknüpfungspunkte finden und zunächst leichter Fuß fassen können, so sie erst einmal angekommen sind.

Mit einem kleinen ökonomischen Modell versucht Paul Collier zu zeigen, wie die Größe der Diaspora und die Migrationsrate miteinander verbunden sind. Die Analyse ist nüchtern und wohltuend sachlich, schreckt aber nicht vor Tabubrüchen zurück: Die Kulturen "armer Gesellschaften mit ihren Organisationen und Institutionen stehen unter Verdacht, die primäre Ursache ihrer Armut zu sein" - die Migranten stimmen mit ihren Füßen zugunsten eines sozialen Modells mit hohem Einkommen ab.

Ökonomische und soziale Konsequenzen

Die Analyse gilt den vielfältigen Folgen der Migration - und zwar den Folgen für die Herkunftsländer der Migranten, jenen für die Zielländer der Migration und jenen, die für die Migranten selbst erwartbar sind.

Da es in aller Regel nicht die ärmsten Bevölkerungsschichten sind, die auswandern, sondern mobile Menschen, die materielle und immaterielle Ressourcen haben, um einen oft gefährlichen Aufbruch zu wagen, "fehlen" durch Migration oft wertvolle Kräfte im Land. Wohl überweisen sie den Zurückgebliebenen im Erfolgsfall Geld; aber (zu) selten kehren sie zurück - außer "ihr" Land entwickelt sich erfolgversprechend.

Relativ klar sind die (meist positiven) ökonomischen Folgen für die Migranten - so sie erfolgreich integriert werden; was freilich nicht nur (aber doch sehr stark) von ihrer Bereitschaft abhängt, zumindest die entscheidenden Teile der neuen Kultur (Sprache, Gesetze, Alltagsregeln) zu "absorbieren" und anzuerkennen.

Besonderes Augenmerk des Autors liegt auf den Folgen für die "aufnehmenden Gesellschaften" - den ökonomischen wie den sozialen. Die ökonomischen Kosten bzw. Vorteile werden von ihm -so die Migration nicht schlagartig und massenhaft erfolgt -nicht hoch veranschlagt, wenn man sie über einen längeren Zeitraum hin betrachtet.

Schwieriger ist es bislang offensichtlich, die sozialen Konsequenzen von zunehmender "Diversität" durch Migration einzuschätzen. Die Sozialwissenschaften liefern nur ungenügend klärende Beiträge. Viel hängt von der Geschwindigkeit ab, mit der die Migranten in den neuen Staat "absorbiert" werden -sodass die Größe der Diaspora sinkt, die ihrerseits ein bestimmender Faktor für neue Migration ist. Viel hängt vom Vertrauen ab, das den Migranten entgegengebracht wird und das sie ihrerseits entwickeln müssen. Viel hängt davon ab, ob es gelingt, räumliche und soziale Segregation (die Ausbildung von Parallelgesellschaften) zu vermeiden.

Gerade weil das Buch vor den Entwicklungen, die 2015 eingesetzt haben, geschrieben ist und die Beschleunigung der Migrationsströme nur annimmt, kommt den Überlegungen Paul Colliers zu einer Migrations-und Integrationspolitik aktuelle Bedeutung zu.

Er schreibt vor allem auch im Zusammenhang mit der Integration dem Nationalstaat und dessen Einheiten eine potentiell große (positive) Rolle zu. Er plädiert für rationale Konzepte und systematische Arbeit. Das Buch bringt viele Anregungen dafür - und dies ist ein kurzer Artikel. Es ist skeptisch gegenüber fröhlichem Multikulturalismus und doch reich an "Ideen, die gehen" (könnten). Und Ideen sind, einem polnischen Aphorismus zufolge, "wie Flöhe: Sie springen von Kopf zu Kopf, aber sie beißen nicht jeden".

Exodus

Von Paul Collier Deutsche Erstausgabe 2014, Siedler Verlag Taschenbuch, Februar 2016, Pantheon Verlag 320 Seiten, € 15,50

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