Das Martyrium ist Basis dieser Kirche

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Mit nur 70 Priestern betreut Bischof Werth ein Gebiet, größer als die EU. Enorme Armut und Spannungen mit der Orthodoxen Kirche prägen das Umfeld.

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Mit nur 70 Priestern betreut Bischof Werth ein Gebiet, größer als die EU. Enorme Armut und Spannungen mit der Orthodoxen Kirche prägen das Umfeld.

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dieFurche: Unmittelbar nach der Wende suchten viele in Rußland neue Orientierung in der Religion. War das der Beginn einer geistigen Erneuerung oder nur eine Modeerscheinung?

Bischof Joseph Werth: Zum großen Teil war es wirklich eine Modeerscheinung. Das ist heute vorbei. Vor der Wende haben wir gedacht, wenn einmal der Kommunismus fällt, wenn der Atheismus nicht mehr das ist, dann können wir arbeiten, dann werden uns Millionen zuströmen. Heute sagen wir ganz nüchtern: 70 Jahre lang wurde der Glaube untergraben und 70 Jahre brauchen wir, um ihn wiederherzustellen. Um einen echten Glauben in den Herzen der Menschen wieder zu wecken, braucht man viel Zeit, Geduld, Opferfreudigkeit und Gebet.

dieFurche: Beobachter sehen die russisch-orthodoxe Kirche mit der Missionsaufgabe überfordert. Erklärt das die ständigen Vorwürfe gegen das missionarische Engagement von Katholiken und Protestanten in Rußland?

Werth: Ich bin mit vielem, was die orthodoxe Kirche sagt, nicht einverstanden. Ich würde gerade umgekehrt die Kräfte der Orthodoxen, Katholiken und Protestanten vereinen. Zusammenarbeit wäre gewiß die beste Abwehr gegen den großen Einfluß der Sekten. Die orthodoxe Kirche hat sich leider immer mehr in den Kampf gegen alle nichtorthodoxen Konfessionen verstrickt. In 70 Jahren wurde in unserem Land sehr viel Glaubenssubstanz zerstört. Auch die orthodoxe Kirche hat darunter gelitten. Äußerlich wurde ein Teil der orthodoxen Kirche erhalten, als Zeichen für den Westen, daß es in Rußland religiöse Freiheit gibt. Es gab aber fast nie die Erlaubnis, daß Kinder im Gottesdienst teilnehmen und viele weitere Beschränkungen. Die orthodoxe Kirche ist deshalb sehr geschwächt. Sie kann aus innerer Schwäche nichts gegen die Sekten tun. Deshalb ist sie auch versucht, immer wieder den Staat zu Hilfe rufen.

dieFurche: Im Vorjahr erließ das russische Parlament ein Religionsgesetz, das die katholische Kirche und auch evangelische Kirchen nicht zu den traditionell in Rußland ansässigen Religionen zählt. Ihre Tätigkeit wird reglementiert. Behindert das Ihre Arbeit?

Werth: An Ort und Stelle verstehen viele, daß etwa die Rußlanddeutschen, die teils katholisch, teils evangelisch sind, schon seit mehr als 200 Jahren im Lande leben. Das Gesetz aber ist für uns wirklich sehr ungünstig. Man kann es als Waffe gegen die katholische Kirche benutzen. Es gibt zum Beispiel Regelungen gegen ausländische Missionare. Wir haben heute in Sibirien 70 Priester, 65 davon sind Ausländer. Wenn sie ausgewiesen werden, haben wir wieder einen Zustand wie vor 20 oder 30 Jahren. Vieles hängt von den Ortsbehörden ab.

dieFurche: Als Sie 1991 Apostolischer Administrator für Sibirien wurden, wie war das der Zustand der Kirche?

Werth: Es gab damals in ganz Sibirien drei katholische Priester, fast keine Kirchen. Gläubige in vielen Dörfern und Städten hatten seit Jahrzehnten keinen Priester gesehen.

dieFurche: Woher kommen die Katholiken in Sibirien?

Werth: Die Bevölkerung Sibiriens besteht zumeist aus Nachkommen von deportierten Völkern. Das Stalin-Regime hat viele Millionen Menschen nach Sibirien verbannt. Auch viele Russen wurden ja zur Strafe nach Sibirien geschickt, schon in der Zarenzeit, aber besonders nach der kommunistischen Revolution. Die Katholiken sind meist Nachfahren von deportierten Polen, Deutschen, Ukrainern und Litauern.

dieFurche: Die Katholiken deutscher Abstammung sehen ihre Zukunft eher in Deutschland. Was raten Sie denen, die noch nicht gegangen sind?

Werth: Die Auswanderung der Rußlanddeutschen ist für die Katholiken in Sibirien ein großer Verlust. Die Rußlanddeutschen waren immer der Kern und das Fundament unserer Gemeinden. Aber man muß auch wissen, wie schwer es die Menschen in der Vergangenheit hatten und wie schwierig die Lage auch heute noch ist. Damit meine ich die materielle Lage, aber auch die Unsicherheit um das neue Religionsgesetz. Wie kann ich den Leuten dann sagen: Bleibt hier, es ist wunderbar wenn ich selbst nicht sicher bin, was morgen sein wird.

dieFurche: Sie kommen auch in Deutschland mit Aussiedlern zusammen. Wie geht es diesen Menschen?

Werth: Diesen Menschen fällt es schwer, in Deutschland heimisch zu werden. Das ist eine ganz andere Welt. Auch die Frömmigkeitsformen sind ganz anders, als unsere Leute das gewöhnt waren. Ich versuche ihnen zu helfen, soweit ich kann.

dieFurche: Kann die Kirche die Eingliederung erleichtern?

Werth: Ich wünschte mir sehr, daß die Kirche mehr für die Rußlanddeutschen tut. Unsere Leute sind ganz offen für den katholischen Glauben ihrer Väter. Und wenn hier in Deutschland etwas mehr für diese Leute getan würde, könnte die Kirche in Deutschland viel gewinnen.

dieFurche: Ihr Seelsorgegebiet ist größer als Europa. Wie baut man in solchen Weiten die Kirche auf?

Werth: Der Priester zieht von Ort zu Ort; manchmal hat er Adressen von Katholiken. Sie versammeln dann die anderen Katholiken und so entsteht in wenigen Stunden eine kleine Gemeinde. Da hört der Priester Beichte, feiert die heilige Messe und zieht weiter. Das ist heute wie früher, nur besser organisiert. Wir haben über 200 Städte und Dörfer mit Anlaufpunkten für Priester. Sie besuchen diese Orte regelmäßig, manche jede Woche, manche nur einmal im Monat. Entferntere Punkte kann der Priester nur einmal im Jahr besuchen.

dieFurche: Bei so wenigen Geistlichen welche Bedeutung haben da die Laien?

Werth: Vor 30 oder 40 Jahren, als wir noch überhaupt keine Priester hatten, haben die Laien alles getragen. Es gab oft eine tiefgläubige Frau oder einen tiefgläubigen Mann, die etwas mehr über den Glauben wußten als die anderen. Sie haben ihr Wissen mit den anderen geteilt. In unserer Familie wird erzählt, daß vor einem Fest öfters Katholiken in unser Haus kamen und meinen Großvater fragten , wann in diesem Jahr Ostern sei, wie man das und jenes machen solle, weil mein Großvater einige religiöse Bücher und Erfahrung gehabt hat. Die Laien haben Rosenkranzgebete oder andere Gottesdienste organisiert, Beerdigungen vorgenommen und Nottaufen gespendet. Eine Frau in Sibirien - sie ist nach Deutschland ausgewandert - hat in ihrem Leben etwa 1000 Menschen getauft. Es gab dafür keinen Lohn, nur die Aussicht, im Gefängnis zu landen. Heute sind die meisten dieser eifrigen Katholiken ausgewandert oder verstorben. Wir bilden jetzt neue Laien aus. Aber die alte Laienbewegung bleibt uns noch lange Vorbild. Ich glaube, sie war viel stärker, denn sie stand auf dem Fundament des Martyriums.

dieFurche: Welche Bedeutung hat Hilfe aus Deutschland und Österreich für die Kirche in Sibirien?

Werth: Ohne "Kirche in Not", "Renovabis" und andere Hilfswerke könnten wir heute in Sibirien überhaupt nichts tun. Durch den wirtschaftlichen Zerfall in Rußland ist der Lohn unserer Leute so niedrig, daß sie manchmal buchstäblich hungern müssen. Dann kann man nichts mehr opfern, um eine Kirche oder etwas anderes zu bauen. Wir hoffen nur, daß diese Zeiten vorbeigehen und daß wir wieder selbst unsere Kirche tragen können, wie das sogar im Untergrund möglich war.

dieFurche: Was kann die Kirche in Mittel- und Westeuropa von den Katholiken Sibiriens lernen?

Werth: Als mir die Frage vor sieben oder acht Jahren zum ersten Mal gestellt wurde, habe ich gedacht: gar nichts. Wir haben alles verloren, wir müssen lernen. Jetzt sehe ich, daß es wirklich Werte gibt, auf die wir stolz sein können. Unsere Kirche baut auf einem Fundament des Martyriums. Wie schon Tertullian im dritten Jahrhundert sagte: "Das Blut der Märtyrer ist Samen für die Christenheit." Das gibt uns auch heute Hoffnung.

Das Gespräch führte Michael Ragg Zur Person: Ein wolgadeutscher Bischof für den Osten Rußlands Im sibirischen Karaganda kam Joseph Werth 1952 als zweites von elf Kindern zur Welt, in eine Familie, die mit dem gottlosen Kommunismus nichts zu tun haben wollte. Bischof Werths Großeltern waren von Stalin aus der von Deutschen bewohnten Wolgarepublik nach Kasachstan deportiert worden.

Im litauischen Kaunas besuchte Werth ab 1979 das geheime Priesterseminar. Zuvor war er dem im Untergrund arbeitenden Jesuitenorden beigetreten. 1984 wurde er zum ersten Priester in Sibirien geweiht, zum ersten seit den Dreißiger Jahren.

Ab 1990 durfte die katholische Kirche wieder öffentlich wirken. Papst Johannes Paul II. errichtete zwei Apostolische Administraturen, eine davon für den asiatischen Teil Rußlands. Als Bischof von Sibirien leitete Werth von da an ein Seelsorgegebiet, das größer ist als die EU und mehr als ein Zehntel der Erdoberfläche umfaßt.

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