Das Ringen um GALLISCHE DÖRFER

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Die Gemeinwohlökonomie ist fünf Jahre alt und hat Anhänger in 50 Staaten. Doch die meisten Ideen sind nicht einmal im Ansatz verwirklicht. Werden sie es jemals? Prognose und Wünsche des Ideenstifters.

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Die Gemeinwohlökonomie ist fünf Jahre alt und hat Anhänger in 50 Staaten. Doch die meisten Ideen sind nicht einmal im Ansatz verwirklicht. Werden sie es jemals? Prognose und Wünsche des Ideenstifters.

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Der tschechische Ökonom Tomás Sedlácek leitet seine internationalen Auftritte gerne mit einem Seitenhieb auf Paul Samuelson ein, Nobelpreisträger und Autor eines Standardwerkes der Volkswirtschaftslehre. "Ich möchte Sie lehren, wie ein Ökonom zu denken", schreibt Samuelson. "Wie welcher?", ergänzt dann Sedlácek .

Als die "neoliberalen" Ökonomen rund um Friedrich August Hayek und Milton Friedman ihre Vorstellungen von der Welt, der Wirtschaft und ihr Menschenbild strategisch zu verbreiten begannen, stand ihnen mit der Mont Pelerin Society ein machtvolles Netzwerk zur Verfügung, das 1970 nicht nur die Einführung eines "Wirtschaftsnobelpreises" erwirkte, sondern auch dessen Verleihung an eine Reihe ihrer Mitglieder. Dass es einen echten Nobelpreis für die Ökonomie gar nicht gibt, ist ebenso wenigen Menschen bewusst wie die Tatsache, dass die Wirtschaftswissenschaft eine Abspaltung der Philosophie ist, für die es keinen vergleichbaren Preis gibt.

Während den neoliberalen Ökonomen weltweit Türen zu Top-Entscheidungsträgern offenstanden, ist die Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung eine Graswurzel-Initiative, die gar nicht aus der akademischen Ökonomie heraus entsprang. Anfangs wurde sie von den politischen Eliten ebenso ignoriert, wie von den wissenschaftlichen Eliten belächelt.

Doch nach und nach ändert sich das Bild. Ein "Ökonomie-Nobelpreisträger" schrieb das Vorwort für die englische Ausgabe des Buches, und die Anfragen kommen von Universitäten und Business Schools aus aller Welt. Wohin führt die Reise eines "politischen Start-ups" und welche Herausforderungen liegen aktuell auf dem Weg?

Kern der Gemeinwohl-Ökonomie ist die "Entdeckung", dass in der aktuellen Wirtschaftsordnung Ziel und Mittel verwechselt werden: Obwohl zahlreiche Verfassungen demokratischer Staaten darin übereinstimmen, dass das Gemeinwohl das Ziel des Wirtschaftens ist, wird der Erfolg in der Ökonomie an den Mitteln gemessen: Finanzrendite, Finanzgewinn, BIP sind finanzielle Erfolgsindikatoren. Die Alternativen der GWÖ sind Gemeinwohl-Produkt, Gemeinwohl-Bilanz und Gemeinwohl-Prüfung. Mittelfristig soll die Gemeinwohl-Bilanz analog zur Finanzbilanz einheitlich, rechtsverbindlich, extern auditiert und mit Rechtsfolgen verknüpft sein - bis hin zur ethischen Insolvenz, wenn Mindeststandards nicht erfüllt werden.

Gemeinwohl-Bilanzen als Modell

Die Gemeinwohl-Bilanz ist nicht der erste "nichtfinanzielle Berichtsstandard" für Unternehmen: Da sind bereits der Global Compact, die OECD-Richtlinien, ISO 26000, die Global Reporting Initiative oder der Deutsche Nachhaltigeitskodex. Eine EU-Richtlinie, die Unternehmen ab 500 Beschäftigten verpflichtet, über ethische Indikatoren zu berichten, befindet sich gerade in nationaler Umsetzung.

Die erste Welle von Gemeinwohl-Bilanzen ist durch die Unternehmenslandschaft geflutet, die zweite Welle erfasst die Gemeinden. Weiz und Zaragoza zählten zu den ersten Gemeinden, die einen Kommunalbetrieb zertifizierten. Die Stadt Stuttgart hat ein Budget von 70.000 Euro für Bilanzierungen bereitgestellt.

Doch eine Reihe von Gemeinden wünschten eine eigene Gemeinde-Bilanz. Vom Städtebund kam eine erste Einladung, nächster Gesprächspartner wäre der Gemeindebund. Zur Zukunftsmusik zählen auch die "Kommunalen Wirtschaftskonvente": In ihnen sollen 50-100 BürgerInnen Vorschläge für die 20 Eckpunkte der zukünftigen Wirtschaftsordnung erarbeiten, die von der gesamten Gemeindebevölkerung abgestimmt werden. Eine Delegierte würde das Ergebnis mit in den Bundeswirtschaftskonvent nehmen, der die finalen Varianten konsensiert, die vom gesamten Souverän abgestimmt werden sollen. Das Ergebnis wäre die erste demokratische Wirtschaftsverfassung. Derzeit sucht die GWÖ-Bewegung das erste "gallische Dorf" für diese Pionierleistung.

Eine nächste Entwicklungsphase ist die Durchdringung des Finanzsystems. Bisher haben drei Banken die Gemeinwohl-Bilanz erstellt. Drei weitere haben sich am Projekt Bank für Gemeinwohl beteiligt: einem Prototyp einer vollethischen Bank, die auf eine gemeinwohlorientierte Reform des Finanzsystems hinwirken möchte. Das Erkennungsmerkmal der Zukunftsbank ist die Gemeinwohl-Prüfung, mit der sie alle Kreditansuchen auf ihre ethischen Auswirkungen prüfen will. Die finanzielle Bonitätsprüfung nimmt nur das Mittel des Wirtschaftens in den Blick, nicht aber das Ziel und die Werte. Eine Investition mit zweistelliger Finanzrendite kann heute auf Kosten der Umwelt, der Gerechtigkeit, des sozialen Zusammenhalts und der Demokratie gehen. Die gängigen Instrumente der Ökonomie haben kein Sensorium für Verfassungswerte. Kreditprojekte, die zwar die Ethik-, nicht jedoch die Finanzprüfung bestehen, könnten an die "Regionale Gemeinwohl-Börse" weitergereicht werden.

Die Suche nach der Ethik

Dort beteiligen sich Menschen an besonders sinnvollen und ethischen Unternehmen. Allerdings erhalten sie keine Finanzrendite. Auch können sie Unternehmensanteile nicht handeln, sondern nur zurückgeben. Die Idee dahinter ist, dass sich Menschen nur an Unternehmen beteiligen, die sie gut kennen, die Sinn machen und eine exzellente Gemeinwohl-Bilanz vorweisen könnten. Gegenwärtig arbeitet der ehemalige Vizepräsident der Pariser Börse am Prototypen einer Gemeinwohl-Börse im spanischen Bundesland Valencia.

In Valencia wird 2016 auch der erste GWÖ-Lehrstuhl eingerichtet - nachdem ein MBA an der Universität Salzburg am Senat gescheitert ist. Die Universität Barcelona geht noch einen Schritt weiter: Sie hat einen UNESCO-Lehrstuhl eingereicht und wartet gerade auf die Entscheidung in Paris. Die Universitäten Flensburg und Kiel testen in einem vom Berliner Bildungsministerum finanzierten Forschungsprojekt die Erstellbarkeit der Gemeinwohl-Bilanz bei Großunternehmen - unter anderem an drei DAX-Konzernen. Das Ergebnis ist ebenso offen wie die Frage, ob Großkonzerne überhaupt ein positives Bilanz-Ergebnis erzielen können.

Strategische Ziele

Strategisches Ziel der Bewegung ist die Entfaltung "positiver Rückkoppelungen", die dazu führen, dass immer mehr Unternehmen mitmachen. Wenn Banken, Investoren, KonsumentInnen und öffentliche Einkäufer zunehmend nach der Gemeinwohl-Bilanz fragen, beginnt sich die gegenwärtige Marktdynamik von Kostenminimierung und Gewinnmaximierung (auf Kosten echter Werte) zu drehen Richtung Gemeinwohl-Mehrung.

Wenn zusätzlich individuelle Anreizsysteme vom Mittel auf das Ziel umgeschrieben werden, tritt eine nicht mehr aufzuhaltende Systemlogik in Richtung Gemeinwohl inkraft: Endlich wirken die Marktkräfte zugunsten gesellschaftlicher Grundwerte wie Gerechtigkeit, Solidarität, Nachhaltigkeit oder Mitbestimmung.

Ein systemischer Spill-over ist auch auf die Demokratie zu erwarten. 1989 fiel der Eiserne Vorhang nur zwischen Ost und West, nicht aber zwischen Demokratie und Wirtschaft. Die Gemeinwohl-Ökonomie wird neben einer immer ethischeren Marktwirtschaft auch immer demokratischere Strukturen in der Gesellschaft fördern. Partizipative Prozesse in Unternehmen und Gemeinden werden auch Resonanz im politischen System erzeugen.

Die Langfrist-Vision der Gemeinwohl-Ökonomie ist eine "souveräne Demokratie", in der die Verfassung von der Bevölkerung geschrieben wird - via dezentrale Konvente, Delegation in einen Bundeskonvent und Finalabstimmung durch den Souverän. Der 100. Geburtstag der Kelsen-Verfassung im Februar 2020 ist dafür ein günstiges Datum. Bis dahin wird feststehen, ob die Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung gesamtgesellschaftliche Relevanz entfaltet haben wird - oder wie ein Strohfeuer verglommen und der Vergessenheit anheimgefallen sein wird.

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