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Das Wagnis der Politik (I)

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Politik ist angewandte Psychologie. Auch andere Bereiche menschlicher Aktivität benötigen, wenn sie erfolgreich sein sollen, die Berücksichtigung seelischer Vorgänge und das Wissen um die Normen des Seelenlebens. Aber die Politik benötigt die Psychologie am meisten, weil sie der Verwirklichung der Ziele dient, die ein Urtrieb des Menschen, der Machttrieb, setzt. Die Macht kennt begrifflich keine Schranken, weder in ihrer äußeren Ausweitung noch in ihrem inneren Gehalt. Sie ist daher in ihrem eigentlichen Wesen ohne Moral, denn Moral ist eine Schranke, deren Natur ganz anderen Werten entstammt und deren Aufrichtung die Erringung des Machtzieles hemmen oder verhindern könnte.

Dieser absolute, letztlich amoralische Charakter der Macht fasziniert die einen, während er die anderen abstößt. Viele Menschen bewundern uneingestandenermaßen die Macht, aber weil sie sie nicht erringen können, schmähen sie sie. Manche verurteilten die Macht mit harten Worten, um sofort ihr Urteil zu ändern, sobald vor ihren Augen ein wenn auch winziger Anteil an der Macht vorgetäuscht wird. Die breite Masse fürchtet sie, weil sie sich ihr ausgeliefert fühlt. Das Objekt liebt nie das Subjekt. Also lehnt die Masse auch den Politiker ab, sie sieht in ihm den Ausgangspunkt der Gefahr. Und weil er, der Anteil an der Macht hat, unangreifbar oder schwer angreifbar ist, so hat die Masse immer die Tendenz, den Politiker in das Zwielicht menschlicher Schwächen und Widersprüche zu zerren, ihn seines Anders-Seins zu entkleiden, um sich dadurch, daß er heruntergezogen wird, selbst zu erhöhen.

Politiker und Diplomat

Die Politik steht zwischen absoluter Gewalt und Diplomatie. Die Gewalt, also der Krieg in seinen mannigfachen Formen, auch als Bürgerkrieg, bedeutet zwar nicht den Verzicht auf den Geist — geistlose Strategie wäre ebenso erfolglos wie blindes Umsichschlagen —, aber die Auslieferung der Entscheidung an die Waffen; also an ein Instrument, dessen sich die Politik wohl manchmal bedient oder mit dessen drohendem Einsatz sie arbeitet, auf dessen Kontrolle sie aber nie verzichten darf, ohne sich selbst aufzugeben.

Diplomatie hingegen ist die Kunst, die Macht in Schranken zu halten. Der Diplomat wird zunächst trachten, Konflikte, die zur Gewaltanwendung führen, von vornherein zu verhindern. Die Aufgabe der Diplomatie besteht in der Erreichung des durch die Außenpolitik gesetzten Zieles ohne Gewaltanwendung. Zwar wird auch der Diplomat die Drohung mit Gewalt, manchmal sogar die Gewalt selbst in sein Spiel einsetzen müssen, aber er wird es immer nur als Hilfsmittel im Bewußtsein tun, daß das Wesen der Gewalt dem Wesen der Diplomatie widerspricht, die durch die Mittel des Geistes zu siegen hat, so wie der Schachspieler seinen Gegner durch überlegenes Spiel und nicht dadurch überwindet, indem er ihm das Schachbrett auf den Kopf wirft. Der Politiker wird den Diplomaten oft einsetzen, und manche Persönlichkeiten sind zugleich Politiker und Diplomaten. Doch es besteht zwischen Politik und Diplomatie ein fundamentaler Unterschied: Der Politiker hält die Verwirklichung seines Konzeptes, verbunden mit absoluter Macht, für wünschenswert und möglich. Der Diplomat weiß schon deshalb, weil jeder gute Diplomat auch Historiker ist, daß absolute Siege und Triumphe weder wünschenswert noch verwirklichbar sind. Er wird daher immer zum Ausgleich streben und sieht in einem Kompromiß, der zwar niemanden befriedigt, aber auch niemanden enttäuscht und verbittert, das Maximum dessen, was in den Bezie-

Cicero: ein Urbild des wahren Politikers hungen der Völker erreicht werden kann.

Schweigen ist nicht immer Gold

Es ist daher Politik nötig, und wir können ihr nicht entgehen. Selbst der, der sich gar nicht mit Politik befaßt und von ihr überhaupt keine Notiz nimmt, beeinflußt durch seine Enthaltung das politische Geschehen; zumindest macht er dem Platz, der politisch regsam ist, und damit auch dem, der das Gegenteil von der Lebensform und den Lebenswerten vertritt, die schließlich und endlich auch der hat, der die Politik negiert.

Was aber die Beziehungen zwischen dem Politiker und den anderen Staatsbürgern so sehr erschwert, sind die Eigengesetzlichkeiten des politischen Geschehens. Sie sind teils schwer durchschaubar, teils für das übrige Leben schwer anwendbar, vor allem aber sind sie nicht, wenn man so sagen kann, sympathisch.

Das beginnt bereits mit der Aussage im politischen Leben. Wenn man im Privatleben oder auch im Beruf eine Erklärung über ein bestimmtes Geschehen abgibt, so kann man entweder die Wahrheit sagen oder man lügt. Im politischen Leben liegen die Dinge nicht so einfach. Gibt ein Politiker eine Erklärung ab, so muß er sich ständig der Tatsache bewußt sein, daß er mit dieser Erklärung den politischen Tatbestand nicht nur darstellt, sondern seine Fortentwicklung beeinflußt. Er kann zum Beispiel durch die Mitteilung eines wahren Tatbestandes, der bisher noch nicht bekannt war, eine Entwicklung auslösen, die letzten Endes diesen Tatbestand wieder zunichte macht. Er muß dabei eine Fülle von Faktoren, von Kräftekomponenten berücksichtigen und wird dabei meistens zur Erkenntnis kommen, daß die weitere Entwicklung nicht verläßlich voraussehbar ist. Er wird daher seine Erklärung jeweils so fassen, daß das politische Geschehen so beeinflußt wird, wie er hofft. So wird es sich in der Politik meistens als klug erweisen, zu schweigen.

Aber auch beim Schweigen muß sich der Politiker der politischen Wirkung dieser seiner Haltung bewußt sein. Schweigen ist schließlich und endlich auch eine Aussage; es ist nur die Frage, ob diese Form der Aussage seinen politischen Zielen dienlich ist. Es

Photo: Volava ist bei der Aussage so wie bei dem übrigen Handeln im politischen Leben: Es gibt keine generelle Norm, sozusagen eine Patentlösung für ein richtiges Handeln.

„Freund“ und „Feind“ in der Politik

Der größte Gegensatz zwischen Politik und sonstiger Beziehung der Menschen untereinander ist die Relativität der Freund-Feind-Relation. Freundschaft ist im Privatleben, meistens auch im Berufsleben, eine Beziehung, die auf Ehrlichkeit, gegenseitigem Einsatz und Opferbereitschaft, kurzum auf echtem Vertrauen beruht. Wenn es nicht so ist, so war es eben keine Freundschaft.

Der „Fachmann“ — kein guter Politiker

Oft ertönt in der Öffentlichkeit der Ruf nach dem unpolitischen Fachmann in der Politik. Fachleute, nicht Politiker sollen Minister werden. Diese Ansicht klingt plausibel, ist aber zumindest oberflächlich. Ebensowenig wie ein Professor der Philologie ein guter Diplomat ist, ist ein Professor für politische Wissenschaften ein guter Politiker. Politik ist viel eher eine Begabung als ein Ergebnis emsiger Studien. Es ist eine Tatsache, daß alle sogenannten Kabinette der großen Fachleute kurzlebige und echte Versager waren.

Das darf natürlich nicht zum anderen Extrem führen, daß nämlich Fachleute überhaupt nur zur Ausführung der politischen Entscheidungen, nicht aber zu den Entscheidungen selbst zu berufen seien. Wir haben im In- und Ausland immer wieder Beispiele von hervorragenden Fachleuten auf auch politisch entscheidenden Posten. Aber im großen und ganzen kann man sagen, daß der politische Einfluß überragender Fachleute dann am größten ist, wenn sie nicht direkt in die politische Arena herabsteigen.

Dazu kommt aber noch eine andere Überlegung: Rechthaben allein genügt nicht in der Politik. Man muß auch die nötige Macht haben, seine Ansicht durchzusetzen. Macht aber erlangt man nicht durch bloßes Wissen. Die Natur des politischen Kampfes, also das Erwerben und Erhalten der Machtposition, ist aber etwas ganz anderes als echte wissenschaftliche Arbeit. Da es sich aber um Macht-

Die Freundschaft in der Politik ist anderer Art. Es ist durchaus möglich, daß Personen, die die gleiche politische Weltanschauung vertreten, die jahrelang zusammenarbeiten und einen so starken menschlichen Konnex haben, daß sie echte Freunde wären, wären sie nicht Politiker, durch das politische Geschehen in Konkurrenz oder Gegensatz geraten. Da die Politik zwar flexible Mittel, aber absolut konsequentes Handeln verlangt, entsteht unweigerlich in einem solchen Fall der Konflikt zwischen menschlicher Freundschaft und politischem Werdegang. Da aber Politik vorbehaltloser Einsatz ist, kann es auch in einem solchen Fall kein unbedingtes Vertrauen mehr geben.

Heute Gegner — morgen Verbündeter

Aber auch das gesunde Feindverhältnis ist gestört: Es gibt in der Politik keinen absoluten Feind. Was heute unmöglich erscheint, kann morgen Notwendigkeit werden, daher verlangt die Behandlung des politischen Gegners ein besonderes Ausmaß von kühler Nüchternheit und Berücksichtigung psychologischer Tatsachen. Das wichtigste ist, daß ein politischer Gegner nie zur Gänze vernichtet wird. Es tritt nämlich an seine Stelle bestimmt ein anderer, und es ist besser, den geschwächten alten Gegner als den unverbrauchten neuen vor sich zu haben.

Metternichs größte Sorge bei der Beseitigung Napoleons war Rußland, deswegen hat er Frankreich geschont und Europa vor Rußland bewahrt. Die gleiche Klugheit hat Bismarck gegenüber Österreich nach Königgrätz gezeigt. Es ist das Unglück der Welt, daß sich die siegreichen Staatsmänner des ersten und zweiten Weltkriegs durch ideologische und gefühlsmäßige, also sehr wenig politische Überlegungen leiten ließen. Der zweitwichtigste Grundsatz in der Behandlung des Gegners ist die Schonung seines Prestiges. Wenn man in der politischen Auseinandersetzung einem Gegner, sei es einer Person oder einer Personengruppe, eine Niederlage bereitet, ihn aber nicht vernichtet hat, so ist dieser eher bereit, Kompetenzen, also reale Machtpositionen zu räumen, als sich in irgendeiner, manchmal nur symbolischen Angelegenheit zu demütigen.

Der politische Gegner von heute muß als möglicher Verbündeter von morgen anzusehen sein. Verletze ich aber sein Prestige oder Ehrgefühl, mache ich diesen Wandel unmöglich. Diese nüchternen Tatsachen sind die Quelle ewiger Konflikte zwischen denen, die die Schlacht geschlagen haben, und denen, die den Frieden gewinnen wollen. positionen handelt und diese im übrigen meistens nur wenige sind, finden wir das an sich unerfreuliche und von der Öffentlichkeit so sehr kritisierte Phänomen, daß fachlich tüchtige Leute in der Politik nicht gefördert, sondern meistens behindert werden. Die einfache Überlegung besagt nämlich, daß der tüchtige Mann auf einer politisch einflußreichen Funktion die politische Entwicklung anderer behindern oder zumindest bestimmend beeinflussen kann.

Während also im wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Leben im allgemeinen Leistungen zu rascherem Aufstieg führen, können sie in der Politik für längere Zeit ein echtes Hemmnis darstellen. Es gibt daher in allen Ländern Fälle, wo die tüchtigsten Politiker erst in Zeiten wirklicher Gefahr, sozusagen im letzten Augenblick, geholt wurden. Umgekehrt ist aus dem gleichen Motiv erklärlich, daß manchmal Personen in der politischen Arena erscheinen und rasch aufsteigen, von denen bis dahin keine souveränen Leistungen bekannt waren. Gegen das Unbill, das die erste Gruppe erleidet, hilft meistens Beharrlichkeit. Viele haben diese jedoch nicht und scheiden dann enttäuscht und verbittert aus dem politischen Leben aus. Glück in der Politik hingegen kann überraschend zu einer aussichtsreichen Funktion führen. Dann aber ist es so wie auf der Bühne: Der Manager genügt nicht mehr, es muß echte Leistung dazu kommen.

Die Gruppe

Der Experte auf wichtigen Spezialgebieten, insbesonders der Wirtschaft, gewinnt jedoch eine besondere Bedeutung dadurch, daß er zur unerläßlichen Ergänzung einer politischen Gruppe wird. Es ist dabei weniger die Größe der Gruppe bestimmend als ihre innere Geschlossenheit. Gegenseitige Unterstützung um jeden Preis, geschlossenes Auftreten nach außen, Verteilung der Rollen und einheitliches Vorgehen sind die wichtigsten Attribute einer Gruppe, und je geschlossener sie ist, desto stärker ist ihre Anziehungskraft. Ein klares Programm ist dabei nicht immer wünschenswert. Allzu große Klarheit erzeugt Kritik und Widersprüche, eine gewisse Unklarheit läßt Interpretationsmöglichkeiten und Wunschdenken offen. Sobald aber eine Gruppe tatsächliche Machtpositionen erlangt hat, benötigt sie zu ihrer Aufrechterhaltung und zu ihrem Ausbau nicht nur allein die Solidarität und das Gemeinschaftsgefühl, sondern auch effektives Wissen und Können. Es wird sich daher eine solche Gruppe immer um Fachleute bemühen, die allerdings dadurch keine politische Macht bekommen sollen. In diesem Bemühen gleicht die Gruppe dem Verhalten der altrömischen Latifundienbesitzer, die sich zur Sanierung ihrer verrotteten Wirtschaft gelehrte Sklaven aus Griechenland holten, um sie dann nach Erfüllung ihrer Aufgabe reich beschenkt nach Hause zurückzuschicken. Manchmal kann es sich aber ereignen, daß ein solcher hervorragender Fachmann inzwischen einen derartigen Ruf und eine derartige Autorität erlangte, daß die Gruppe gar nicht mehr in der Lage ist, ihn heimzuschicken. Das berühmteste Beispiel dieser Art in der neueren Geschichte ist Salazar, der ursprünglich von einer Militärjunta nur zu dem Zweck berufen wurde, den Staatshaushalt zu sanieren.

(Schluß folgt)

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