Das Weltbild der Fliege

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Ehe, Welt und Roman in Auflösung: die Lust (darüber) zu fabulieren lässt sich Georgi Gospodinov nicht nehmen.

Über dem ersten Kapitel dieses Buches, dessen Originalausgabe 1999 erschienen und inzwischen schon in zahlreiche Sprachen übersetzt ist, steht ein Motto, das es einem wirklich verdammt schwer macht, nicht sofort in den Bann dieses Ich-Erzählers, dieses Autors zu geraten: "In jeder Sekunde gibt es auf dieser Welt eine lange Schlange weinender Menschen und eine kürzere solcher, die lachen. Aber es gibt auch eine dritte Schlange, die nicht mehr weint und nicht mehr lacht. Die traurigste von den dreien. Über sie möchte ich sprechen."

Und dann der fulminante Anfang dieses Romans, schlichter könnte er ja kaum mehr sein: "Wir trennen uns." Kurz angebunden und vielschichtig zugleich. Hier wird keine abgeschlossene Geschichte erzählt; kein Präteritum, kein Perfekt sorgt für Distanz zum Geschehen, Erzähler und Leser sind vielmehr von allem Anfang an, das suggeriert das Präsens, mittendrin in der Geschichte, in der Geschichte einer Auflösung.

In Auflösung begriffen ist zunächst einmal die Ehe des Ich-Erzählers. Emma, seine Frau, offensichtlich mit Madame Bovary entfernt verwandt, eröffnet ihm, dass sie ein Kind erwartet. Der Erzähler, der weiß, dass er nicht der Urheber dieser Schwangerschaft sein kann, sieht sich also vor den Trümmern seiner Existenz. Er ist 30 Jahre alt, hat längst keine Lust mehr, noch einmal von vorne anzufangen. Schon schwebt ihm vor, nur seinen Schaukelstuhl zu retten und als Clochard von einer Parkanlage in die andere zu flüchten.

In Auflösung begriffen ist weiters aber auch die Welt rings um Emma und Georgi: Bulgarien nach der Wende, eine Misere. Hunger. Kriminalität. Die alten Bindungen, ohnehin schon immer brüchig, reißen endlich ganz ab.

In Auflösung begriffen ist schließlich, nach alldem kein Wunder, der Roman selbst. Natürlich. Ein "Natürlicher Roman", so gesehen. Jedenfalls kein Konstrukt, in dem noch irgendwo ein Platz wäre beispielsweise für das Erhabene, weil doch, für den Ich-Erzähler, "nur der Alltag existiert". Kein Handlungszusammenhang, kein geschlossener, funktionierender Organismus, stattdessen alles zerlegt, auseinander gebrochen: Wirklichkeitsfetzen, Träume, Zitate.

Überall nur Bruchstücke, die allerdings mehr oder weniger doch zusammenpassen. So sehen, sagt man, die Fliegen mit ihren Facettenaugen unsere Welt. Die Fliegen, die bekanntlich auf Kothaufen und Mülldeponien sich ihre Nahrung holen und dann die gefährlichsten Krankheiten übertragen können, nicht selten Krankheiten, die zum Tod führen (auch in Gerhard Roths "Alphabet der Zeit" ist davon die Rede).

Gospodinovs Erzähler, der Clochard, der im Übrigen Georgi Gospodinov heißt, um die Verwirrung perfekt zu machen - fast scheint es, als wären, wo alles auseinander und aus dem Ruder läuft, wenigstens der Autor und sein Erzähler unzertrennlich -, Gospodinov also ist außerstande, von seinen Erlebnissen, von seinen Wünschen und Ängsten loszukommen. So beschäftigen ihn immer wieder Erinnerungen an Kothaufen und Straßenkatzen, er trägt "Bausteine zu einer Naturgeschichte des Klosetts" zusammen, vor allem jedoch fesselt ihn das "Weltbild der Fliege": "Was für ein Roman würde entstehen, wenn wir eine Fliege dazu bringen könnten zu erzählen?" Am Ende schreibt er die Schöpfungsgeschichte neu, er entwirft den Anfang einer "Bibel der Fliegen".

Schon Flaubert, berichtet Gospodinov, habe davon geträumt, ein Buch zu schreiben "ohne jedwede äußere Fabel", Proust habe diesen Traum dann bis zu einem gewissen Grad schon realisiert, aber auch er habe "der Versuchung zu fabulieren" nicht widerstehen können. Gospodinov bzw. sein Erzähler plant noch radikaler einen Roman aus "Urstoffen", allein aus Anfängen will er einen Collage-Roman zusammensetzen.

Humor und Verzweiflung

Der "Natürliche Roman" ist voll von Anspielungen auf die Welt der Literatur und die Welt der Naturgeschichte, von Aristoteles bis Carl von Linné, von einzelnen Repräsentanten der Moderne bis zu den Leitfiguren der Postmoderne. Dass der Autor am Ende dieses Romans verschwindet, kommt demnach keineswegs überraschend. Aber die Lust zu fabulieren, trotz allem, sogar im Prozess der Auflösung, die Lust hin und her zu springen zwischen (Galgen-)Humor und Verzweiflung lässt sich auch Gospodinovs Erzähler nie nehmen, und so erzählt er Geschichten über Geschichten, die seine Reflexionen ständig unterbrechen oder auch unterlaufen und die geeignet sind, die Schlange, "die nicht mehr weint und nicht mehr lacht", immer wieder neu zu überraschen und fast ohne weiteres das eine Mal zum Weinen und das andere Mal zum Lachen zu ermuntern, ohne je die Gründe für das eine oder das andere ganz auszublenden.

Natürlicher Roman

Von Georgi Gospodinov

Aus dem Bulg. von Alexander Sitzmann

Literaturverlag Droschl, Graz 2007

167 Seiten, geb., € 19,60

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