"Dass wir selber neues Land sein sollen"

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Vor 90 Jahren wurde in Wien-Grinzing die erste Neulandschule eröffnet. Über ein Bildungskonzept, das von der Reformpädagogik inspiriert war - und die wechselvolle Geschichte des Bundes "Neuland", der Österreichs katholische Kirche und Politik wesentlich prägte.

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Vor 90 Jahren wurde in Wien-Grinzing die erste Neulandschule eröffnet. Über ein Bildungskonzept, das von der Reformpädagogik inspiriert war - und die wechselvolle Geschichte des Bundes "Neuland", der Österreichs katholische Kirche und Politik wesentlich prägte.

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Dass Kinder und Jugendliche nach Maßstab des Menschen möglich e n glücklich sein können." In grünen Lettern prangt dieser Schriftzug über einer Eingangstüre in der Neulandschule Grinzing, die heuer ihren 90-jährigen Geburtstag feiert. Mit ihrem reformpädagogischen Ansatz sind die Wiener Neulandschulen das wohl dauerhafteste Vermächtnis des Bundes "Neuland", der als Erneuerungsbewegung mit Persönlichkeiten wie Kardinal Franz König und Otto Mauer nicht nur die Geschichte der katholischen Kirche, sondern auch jene Österreichs wesentlich mitgestalten sollte.

Doch beginnen wir von vorn, im Jahr 1921. Der Krieg war verloren, ein Vielvölkerstaat zerfallen, Monarchie und Adel abgeschafft: Die jungen Studierenden, die den Bund "Neuland" ins Leben riefen, suchten nach Sinn und Zusammengehörigkeit in Zeiten der allgemeinen Orientierungslosigkeit. "Wir wollen zurück zur Natur. Wir wollen zurück zum Volke. Wir wollen zurück zur Religion", heißt es mit viel Pathos in einem frühen Pamphlet der Bewegung. Besonders das letzte Ziel ist den damaligen, vehementen Kritikern von Liberalismus und Säkularisierung ein Anliegen. In einer ihrer ersten Großaktionen machen die katholischen Studierenden gegen die Abschaffung des Religionsunterrichtes mobil. Der Bund "Neuland" sieht sich in einem bewussten Gegensatz zu den marxistischen und sozialistischen Mittelschülerverbänden, sucht aber die Nähe zur Arbeiterklasse. In ihrem romantischen Ursprünglichkeitsdenken wenden sich die Neuländer damals gegen Kapitalismus und Moderne.

"Selber neues Land sein"

Der Wiener Historiker Herwig Czech beschreibt den Bund "Neuland" zu dieser Zeit als "katholische Erneuerungsbewegung mit einem sehr starken völkischdeutschnationalen Einschlag. Sie haben sich verstanden als eine Art intellektueller Avantgarde". Der Name ist Programm: Für Prälat Karl Rudolf, Mitbegründer der Bewegung, heißt die Mitgliedschaft beim Bund "Neuland","dass wir in einem neuen Land leben und selber neues Land sein sollen".

Schon bald lässt die sozial engagierte Neulandbewegung ihren Worten Taten folgen. 1926 kauft eine Gruppe junger Pädagoginnen rund um Lehrerin Anna Ehm eine ehemalige Militärbaracke im Grinzinger Kaasgraben. Die heutige Nobelgegend ist damals voll von verwahrlosten Straßenkindern. Die pädagogischen Methoden Ehms sind radikal. Als Inspiration für die Volksschule, die 1927 offiziell eröffnet wird, dienen Reformpädagogen wie Berthold Otto und Maria Montessori oder die in den Waldorfschulen gepredigte Hinwendung zur Natur. Franziska Prager, eine enge Freundin und Schülerin von Montessori, ist es dann auch, die den Kindergarten der Neulandschule als Leiterin übernimmt. Prager ist Jüdin -und das zu einer Zeit, als viele Neuland-Ortsgruppen schon einen "Arierparagraphen" führen. "Es gab im Bund Neuland damals einen starken antisemitischen Impetus, aber keinen systematischen Ausschluss von Juden", stellt Czech klar. In der Neulandschule findet eine Begegnung auf Augenhöhe statt. "Wir Schüler wurden ernst genommen", meint der heutige Franziskaner-Mönch David Steindl-Rast. Schon damals duzt man sich, man setzt auf ganzheitliche Erziehung, ein fröhliches Gemeinschaftsleben, Wandern, Gesang und gemeinsames Musizieren.

Aber auch religiös gehen neue Impulse vom Bund Neuland aus. Mit dem Willen zur Feier der Liturgie in der Muttersprache sind die Neuländer der katholischen Kirche, deren konziliare Reform sie später wesentlich vorantreiben werden, fast ein halbes Jahrhundert voraus. "In der Neulandschule haben wir außerdem schon damals die Messe zum Volk gefeiert", erinnert sich Steindl-Rast .

Bund als "Kern eines Reiches"

1931 wird die Volksschule durch ein Gymnasium ergänzt, vier Jahre später folgt eine Hauptschule. Die alten Baracken machen jetzt Platz für einen modernen Neubau nach Plänen des berühmten Architekten Clemens Holzmeister. Die Schülerzahlen verachtfachen sich innerhalb der nächsten sieben Jahre. Aber auch die eigentlich unpolitischen Neuländer können sich der extremen Polarisierung des Ständestaates nicht entziehen. Während der politische Katholizismus fast ausnahmslos die Dollfuß-Diktatur stützt, schließen sich Teile des Bundes "Neuland" der illegalen Hitlerjugend an. Immer häufiger ist jetzt in den Diskussionen der Studenten von der "Volksgemeinschaft" die Rede, vom Bund als "Kern eines Reiches", ja sogar vom deutschen Reich als "Zwischenstation zum Reich Gottes". "In Österreich war der Bund ,Neuland' stark von Nationalsozialisten unterwandert", weiß Herwig Czech. Das geht bis zur Spitze -sogar August Böhm, der langjährige Führer der "Neuland"-Bewegung, war illegaler Nazi.

"Anschluss" und Krieg

Als die Nationalsozialisten in Deutschland aber auf Konfrontationskurs mit der Kirche gehen, wenden sich die Neuländer entschieden von der NS-Ideologie ab. "Zunächst kann der Bund 'Neuland' als solcher sich niemals einer politischen Partei unterordnen", verkündet damals das Neuländer-Mitglied Rudolf Mauser in einer Ansprache, "die politische Macht der Nation ist nicht der höchste Wert". Am 5. April 1936 marschieren über 800 Neuländer mit wehenden Fahnen in den Arkadenhof des erzbischöflichen Palais und bitten Theodor Innitzer um die Aufnahme in die kardinalstreue "Katholische Aktion". Ein Canossagang, meinen manche im Bund. Es ist jedenfalls der erste katholische Verein, der die Unvereinbarkeit einer Mitgliedschaft mit dem Nationalsozialismus erklärt. Zwei Jahre später, nach dem "Anschluss", wird der Bund "Neuland" schließlich mit der Neulandschule aufgelöst. Fünf Mitglieder kommen nach dem Protest gegen das neue Regime ins KZ. Die alten Schulbaracken werden zum Kriegslazarett.

Als der Krieg zu Ende ist, wird der Bund "Neuland" neu gegründet - und ihm die Schule wieder zurückgegeben, jetzt als Mädcheninternat. Ingeborg Verweijen ist eine der ersten Schülerinnen an der wiederaufgebauten Neulandschule. In der allgemeinen Not der Nachkriegszeit stehen statt Reckturnen Schneeballschlachten als körperliche Ertüchtigung am Programm. "Wir hatten nur Metallplatten unter den Matratzen", erzählt Verweijen. Auch als Ruth Steiner, die spätere Generalsekretärin der "Katholischen Aktion", Ende der 1950er-Jahre an die Neulandschule kommt, müssen sich dreizehn Mädchen einen kleinen Schlafraum teilen. Steiner denkt trotzdem gerne an die engagierten Lehrerinnen zurück, die mit dem in Manila geborenen jüdischen Flüchtlingskind auch am Nachmittag freiwillig Deutsch lernten. "Man hat wirklich das Gefühl gehabt, dass die mit einem mitgehen", meint Steiner, "ich habe auch nie irgendeinen antisemitischen Kommentar gehört".

Nicht alle Schüler fühlen sich in den Neulandschulen so wohl wie Steiner. Um sie zu stählen, wird den Volksschülern das Trinken bis zum Schulschluss am späten Nachmittag verboten. Der Schriftsteller Michael Amon erzählt in seinen autobiographischen Erinnerungen "Fromme Begierden" von sadistischen Erziehern an der Neuland-Dependance am Laaerberg. Schüler werden geschlagen, wenn sie Schillers "Taucher" nicht auswendig kennen, andere bringen Stunden in stockdunklen "Strafkammerln" zu. Die Neuland-Lehrerinnen und Gründerin Ehm erfahren nichts von den Übergriffen.

Impulsgeber für Konzil

Politisch kann der Bund "Neuland" nicht mehr an die Bedeutung der Zwischenkriegszeit anschließen, beim kirchlichen Aufbruch zum II. Vatikanum - und darüber hinaus -werden aber Persönlichkeiten prägend, die ihrerseits in ihrer Jugend vom Bund "Neuland" geprägt worden waren: allen voran Kardinal Franz König und der legendäre Wiener Hochschulund Akademikerseelsorger Karl Strobl, der prominente Laien von Kurt Schubert, Erika Weinzierl, Hans Tuppy und Friedrich Heer bis zu Erhard Busek und Franz Fischler um sich scharte. Auch Felix Hurdes, Mitbegründer der ÖVP, und der langjährige Presse-Chefredakteur Otto Schulmeister sind Neuländer. Und Eva Petrik, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Katholische Jungschar mitaufgebaut hatte, 1974 und 1983 die österreichischen Katholikentage mitprägen sollte und schließlich Präsidentin der Katholischen Aktion werden würde, hat ab 1958 an der Neulandschule unterrichtet.

Heute gibt es drei Volksschulen, zwei Kindergärten, zwei neue Mittelschulen und zwei Gymnasien der "Neuland"-Bewegung an drei verschiedenen Standorten in Wien. In vielem bleiben die Neulandschulen immer noch etwas Besonderes. Noch immer werden hier die Lehrer geduzt und individuelle Begabungen besonders gefördert. Alexander Bohn, 19 Jahre alt, hat die Neulandschule Grinzing vom Kindergarten bis zum Gymnasium besucht. "Wenn man schon länger in der Neulandschule ist, dann ist es wie ein familiäres Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern", findet Bohn. In den jährlichen Weihnachtsspendenaktionen und religiösen Feiern lebt für ihn der Geist der "Neuland"-Bewegung weiter. Zumindest er scheint tatsächlich nach Maßgaben des Menschenmöglichen glücklich geworden zu sein.

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