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. . . den Bruder sehen

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Besondere Bedeutung für die geistige Erneuerung dieses Milieus ist dem Movimiento Familiär Cristiano (Christliche Familienbewegung) zuzusprechen, einer Bewegung, die sich, von Uruguay ausgehend, über ganz Lateinamerika ausgebreitet hat. In ihren Begründern, Padre Pedro Richards und dem Ehepaar S o n e i r a, haben wir wahrhaft missionarische Menschen gefunden, die ihr Leben in den Dienst der Erneuerung der Kirche in Lateinamerika stellen. Aus dieser Bewegung gehen, über die Erneuerung der Familie hinaus, Impulse für die Umgestaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung auf verschiedenen Gebieten aus. Sie ist eine der lebendigsten christlichen Bewegungen Lateinamerikas.

Diese Bemühungen haben uns gezeigt, daß Gott an das Herz eines jeden Menschen rühren kann, um es umzugestalten und für seinen Dienst zu bereiten. Es kommt nun vor allem darauf an, alle Kräfte einzusetzen, um die Dringlichkeit der Situation aufzuzeigen und die Erneuerung zu einer konkreten Macht werden zu lassen. Für die jungen Christen jedoch, die sich für die Menschenrechte des Arbeiters einsetzen, sind diese Bemühungen erst der Anfang einer langen Entwicklung. Sie sehen darin jedustrie besitzen. Sie sind fast alle getaufte Christen — viele von ihnen meinen, gute Christen zu sein: Aber nur zu häufig ist ihr Gewissen wie das eines Kindes,.ohne Beunruhigung. Ihre Privilegien, das System, in dem sie leben, ihr Reichtum, das unsoziale Verhalten ihren Arbeitern gegenüber ist ihnen zur Gewohnheit geworden. Ihre Gewissensbildung ist dem 20. Jahrhundert nicht gewachsen. Allzulange hat niemand an ihr Gewissen appelliert, niemand sie aus diesem geistigen Schlaf aufgerüttelt. Erst mit der Enzyklika „Mater et Magistra“ beginnt sich eine neue Entwicklung anzubahnen.

Diese Menschen haben es weithin verlernt, Christus in ihren Mitmenschen zu achten und zu lieben. Viele kennen das volle Ausmaß des Elends in den Städten und auf ihren Besitzungen gar nicht. Manche wollen es auch nicht kennen. Der furchtbaren Verfehlung an den ihnen anvertrauten Menschen, den Industrie- und Landarbeitern, sind die meisten sich kaum bewußt. Ihr Sinn hierfür ist verlorengegangen.

Es gibt jedoch einen Kreis von Menschen, die diesem Milieu angehören und beginnen, bittere Anklage gegen dessen Lebensweise und seine Art, den christlichen Glauben zu leben, erheben: Es sind dies die Kinder der Reichen. Denn die intellektuelle Jugend Lateinamerikas lebt bewußt im 20. Jahrhundert. Sie besitzt einen scharfen Sinn für die Ungerechtigkeit der herrschenden Gesellschaftsordnung und die Oberflächlichkeit dieses ihres Christentums. Sie sucht einen Weg, Gerechtigkeit für die Notleidenden zu schaffen. Darüber hinaus haben wir jedoch in den Kreisen der Wohlhabenden einen echten christlichen Aufbruch gefunden, der bedeutungsvoll ist, auch wenn dies nur ein erster Schritt ist. Im Anschluß an unsere Vorträge, in denen wir versuchten, durch die Darstellung eines absoluten, aus den Wurzeln des Evangeliums gelebten Christentums, durch ein realistisches Engagement einen Ausweg aus det Situation Lateinamerikas aufzuzeigen, konnten wir es erleben, daß der eine oder andere Großgrundbesitzer oder Industrielle sich des Ernstes der Situation, ja noch mehr, des Paganismus seiner Lebensweise bewußt wurde und sich in spontaner, alles hingebender Geste, die diesen Völkern eigen ist, entschloß, seinen Reichtum aufzugeben und an dem Aufbau einer gesunden Sozialordnung mitzuarbeiten.

Wie schon erwähnt, hat die Enzyklika „Mater et Magistra“ vor allem in Brasilien eine Bewegung für soziales Unternehmertum ins Leben gerufen. Studienkreise entstehen, die im Rahmen der ACDE (UNIAPAC) auf Grund der Soziallehre der Kirche die Verantwortung christlichen Unternehmertums neu erarbeiten.

doch auch eine Gefahr, nämlich die, daß das Umdenken auf eine Art herkömmlichen „Paternalismus“ den Armen gegenüber beschränkt bleibe. Mit Besorgnis sehen sie, daß sich erst langsam das Verständnis dafür anbahnt, daß der heute unterentwickelte Mensch ein Recht auf Ebenbürtigkeit besitzt. Denn — so wiederholten sie uns mit Nachdruck — diese Masse der Armen ist viel mehr als Arbeitsmaterial. Jeder einzelne aus ihr ist unser Bruder in Christus.

Kirche und Christentum

Wir sehen uns genötigt, an dieser Stelle auch von Kirche und Christentum zu sprechen, nicht um Kritik zu üben, sondern um die Bitte vieler lateinamerikanischer Christen zu erfüllen, ihre Sorgen und ihr Mühen um die Kirche hier von Laien zusammenfassen zu lassen.

Man wird uns vielleicht entgegnen, es sei ein Grundprinzip der Kirche, in gleicher Weise allen Menschen, reich und arm, zu dienen, und dabei verschiedene, sehr ernsthafte Bemühungen um die Armen anführen. Um die Tiefe des bestehenden Problems jedoch richtig zu erfassen, bitten wir, die folgenden Erwägungen in ihrem ganzeh Ernst überdenken zu wollen: • In Peru, dem Land mit der indianischen Bevölkerung, ist es für Indianer selbst bei eindeutiger Priesterberufung nur sehr schwer möglich, in ein Priesterseminar zugelassen zu werden. Der Masse der Bevölkerung mangelt es jedoch weitestgehend an Priestern und Missionaren.

• In Santiago de Chile ist für die Betreuung von 140.000 Menschen in der Bannmeile der Stadt (acht Pfarren) nur e i n Priester freigegeben.

• in Montevideo, Uruguay, ist die Betreuung der gesamten Arbeiterjugend (JOC) der Stadt einem Priester anvertraut, der hierfür nur seine Freizeit verwenden kann, da er Seelsorger in einer Pfarre ist.

• In ganz Argentinien gibt es keinen Priester, der für die Betreuung der Arbeiter freigestellt wäre.

• Während eines Ausspracheabends in Bogota, Kolumbien, verabschiedete sich ein Priester vorzeitig mit der Entschuldigung: „Ich muß jetzt gehen. Morgen ist Sonntag, und da habe ich in den Elendsvierteln unserer Stadt acht Messen zu zelebrieren. Sie werden verstehen...“ Ein anderer Priester aus einer armen Industriestadt Kolumbiens erzählte uns: „Sonntag für Sonntag muß ich etwa 4000 Gläubigen die hl. Kommunion, verwehren. Soll ich genügend Messen zelebrieren, um allen den Besuch zu ermöglichen, so ist es mir physisch unmöglich, die heilige Kommunion auszuteilen!“

Was ist Caritas?

Und ein zweites. Im Gespräch mit Menschen verschiedenster Elendsviertel, durch das Hinhorchen auf ihre Bedürfnisse, haben wir verstanden, daß es einer radikalen Revision des herkömmlichen Begriffes von „Caritas“ bedarf, wie sie leider oft verstanden wird, als ein Sichherabneigen und aus dem Überfluß an die Notleidenden spenden. Dies wird heute von den verarmten Massen als Degradierung, als Beleidigung empfunden. Denn diese „Caritas“ toleriert im Grunde das bestehende Unrecht und verhilft den Armen nicht dazu, eine gleichberechtigte Stellung zu erlangen. Sie ist eine Verunstaltung des christlichen Liebesbegriffes, sie ist — auch wenn noch so gut gemeint — unbewußtes Pharisäertum. Sie kann keine wirkliche Umgestaltung der Situation herbeiführen. Wahrhafte Caritas, christliche Liebe, verlangt eine Identifizierung mit dem Leben der Armen: sie ist das unermüdliche Bemühen, ihnen zu helfen, selbstverantwortliche Menschen zu werden. Ohne diese Identifizierung, ohne das Durchbrechen der stillschweigend bestehenden Kastengesellschaft, ohne die Verwirklichung eines Christentums, das seine Aufgabe in gleicher Weise in allen Gesellschaftsschichten wahrnimmt, ohne das Opfer der Selbsthingabe können und werden Kirche und Christentum nicht wieder glaubhaft werden und die Kraft gewinnen, in der gegenwärtigen Krise die Führung zu übernehmen.

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