Der blutige Kampf um Mexikos Lehrer

19451960198020002020

Neun Tote und nahezu hundert Verletzte: Das ist die Bilanz der jüngsten Zusammenstöße zwischen den Lehrergewerkschaften und der Regierung unter Staatspräsident Enrique Pena Nieto in Mexiko. Über die Eskalation eines Konflikts - und seine Vorgeschichte.

19451960198020002020

Neun Tote und nahezu hundert Verletzte: Das ist die Bilanz der jüngsten Zusammenstöße zwischen den Lehrergewerkschaften und der Regierung unter Staatspräsident Enrique Pena Nieto in Mexiko. Über die Eskalation eines Konflikts - und seine Vorgeschichte.

Werbung
Werbung
Werbung

"Die Polizei hat uns unvorbereitet erwischt", erklärte der 32-jährige Lehrer L., der seit fünf Jahren in Grundschulen indigener Gemeinden in der Hochebene von Oaxaca unterricht, gegenüber dem mexikanischen Nachrichtenportal Animal Politico. "Es hat weder ein Gesprächsangebot noch vorherige Warnungen gegeben. Sie sind gegen 7 Uhr 30 angekommen und haben sofort mit Gaspatronen auf uns geschossen. Weil wir gegenüber den hunderten Polizisten deutlich in der Minderheit waren, haben wir uns zum städtischen Friedhof zurückgezogen, während sie weiter mit Tränengas auf uns gefeuert haben." Dann hätten die Dorfglocken zu läuten begonnen und die Bewohner seien zur Unterstützung der Lehrer herbeigeströmt. Was in der Folge begann, war eine regelrechte Schlacht.

Wer ist schuld an der Eskalation?

Seit knapp drei Jahren dauern die Auseinandersetzungen zwischen Mexikos Lehrergewerkschaften und der Regierung unter Staatspräsident Enrique Peña Nieto von der "Partei der Institutionalisierten Revolution" (PRI) schon an. Doch am 19. Juni sind sie endgültig eskaliert: Bei gewaltsamen Zusammenstößen zwischen demonstrierenden Lehrern und der Polizei in Nochixtlán im Bundesstaat Oaxaca wurden neun Zivilisten getötete, davon acht durch Schussverletzungen, und nahezu hundert verletzt. Die Lehrer hatten im Norden des Bundesstaates Oaxaca eine Fernstraße blockiert, um gegen die Verhaftung von Gewerkschaftsführern sowie gegen die Bildungsreform der Regierung zu protestieren, die im September 2013 in Kraft getreten war.

Wer für die Eskalation verantwortlich war, ist umstritten. Nach Angaben der Nationalen Sicherheitskommission sei die Polizei unbewaffnet gewesen und mit Tränengas gegen Steine und Brandsätze werfende Demonstranten vorgegangen. Die radikale Lehrergewerkschaft CNTE (Coordinadora Nacional de Trabajadores de la Educación) wirft der Polizei indes vor, das Feuer auf die Lehrer eröffnet zu haben. Auch sind Fotos aufgetaucht, die zeigen, wie Polizisten auf die Demonstranten schießen.

Um die Ereignisse zu rekonstruieren, soll nun die Nationale Menschenrechtskommission (CNDH) die Vorfälle untersuchen. Darüberhinaus soll ein Dialog zwischen der Regierung und CNTE zur Deeskalation beitragen. Von Regierungsseite leitet Innenminister Miguel Ángel Osorio Chong, einer der starken Männer im Kabinett von Enrique Peña Nieto, die Gespräche. Dies verdeutlicht, welch hohe Bedeutung der Präsident dem Treffen mit den Lehrergewerkschaften beimisst: Nicht zuletzt steht er bereits wegen des "Verschwindens" von 43 Lehramtsstudierenden aus Ayotzinapa, die mutmaßlich von Drogenbanden in Kollaboration mit staatlichen Behörden verschleppt und umgebracht worden sind, unter Druck. Es könne über alles gesprochen werden, kündigte Osorio an. Doch die Demonstrationen und Blockaden durch Lehrer gehen in mindestens siebzehn Bundesstaaten weiter.

Nötige - oder skandalöse - Reform?

Auslöser der Proteste ist vor allem jenes umstrittene Gesetz, das regelmäßige Leistungsüberprüfungen der Lehrer nach fachlichen Kriterien vorsieht. Die Pädagogen beklagen, dass die landesweit einheitlichen Tests an der Realität vorbeigehen würden. Viele von ihnen arbeiten in abgelegenen Dörfern in ländlichen Gebieten, wo die Kinder oft nur indigene Sprachen sprechen. Sie fürchten massenhafte Entlassungen, soziale Einschnitte und eine schrittweise Privatisierung des Bildungssektors. Darüber hinaus kritisieren sie, dass die Reform wenig dazu beitrage, um strukturelle Mängel wie fehlende Unterrichtsmaterialien - vor allem in den ärmeren Bundesstaaten - zu beseitigen.

Die Gewerkschaftsführer sehen die Reform freilich auch als Angriff auf ihre Pfründe. Seit Jahrzehnten kontrollieren sie die Postenvergabe. Oft ist dabei die Gewerkschaftszugehörigkeit wichtiger als fachliche Qualifikation; zum Teil werden die Lehrerstellen sogar vererbt. Auch gibt es nicht wenige, die zwar ein Gehalt als Lehrer beziehen, aber seit ihrem Schulabschluss nie wieder einen Klassenraum von innen gesehen habe - darunter Gerüchten zufolge Bürgermeister, Senatoren, Gouverneure und sogar Mafiabosse.

Vor allem Lehrer der CNTE aus den traditionell "aufrührerischen" Bundesstaaten Oaxaca, Michoacán und Guerrero haben seit 2013 immer wieder Aktionen und Proteste gegen die Reform gestartet. "Bis wir nicht die Aufhebung dieser unheilvollen Bildungsreform erreicht haben, werden wir den begonnenen Weg fortsetzen", machte ein CNTE-Sprecher die Marschroute klar.

Die früher für ihre Streiks und Mobilisierungen berüchtigte andere Großgewerkschaft SNTE (Sindicato Nacional de Trabajadores de la Educación), die größte Einzelgewerkschaft Lateinamerikas, ist indes abgetaucht, seit ihre Führerin auf Lebenszeit, Elba Esther Gordillo ("La Maestra"), Ende Februar 2013 unter Korruptionsvorwürfen festgenommen worden war.

Dafür hat die CNTE, die 1979 als Abspaltung aus der SNTE hervorgegangen war, "die Straße" übernommen. Seit 2013 gab es immer wieder Mobilisierungen und zum Teil gewalttätige Zusammenstöße mit der Polizei in Oaxaca und Guerrero, die zum Teil auch die Hauptstadt Mexiko-Stadt erreichten. Mit einer erneuten Mobilisierung am 15. Mai dieses Jahres durch die CNTE rückte die Auseinandersetzung um die Bildungsreform wieder ins Blickfeld der Öffentlichkeit.Zusätzlich Öl ins Feuer gegossen wurde durch die Festnahme mehrerer Gewerkschaftsführer Ende Mai, darunter der CNTE-Vorsitzende in Oaxaca, Rubén Núñez, dem Veruntreuung und Bereicherung vorgeworfen werden.

Sieben von zehn können nicht lesen

Derzeit wendet Mexiko 6,2 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Bildung auf, das entspricht in etwa dem OECD-Durchschnitt. 93 Prozent der Gelder werden freilich für Lohnzahlungen verwendet, wobei das Land noch nicht einmal genau weiß, wie viele Lehrer es überhaupt gibt. Die Regierung schätzt 1,4 Millionen, wobei die hohe Dichte an Lehrkräften allerdings äußerst bescheidene Resultate zeitigt: Nur die Hälfte aller Schüler beendet die Sekundarstufe; und nur 13 Prozent erreichen die Universität. Sieben von zehn können entweder nicht lesen oder rechnen. Damit ist Mexiko Schlusslicht in der OECD.

Ein anschauliches Bild für diese Situation - und das Dilemma des Streits -wählte Manuel Gil Antón, Forscher am Zentrum für Soziologische Studien des Colegio de México (Colmex), gegenüber der spanischen Zeitung El País: "Das mexikanische Bildungssystem ist wie ein Bus, der mit kaputtem Motor bergauf, auf einer Straße voller Schlaglöcher unterwegs ist, und auf einmal sagt eine Gruppe Reisender, die Lösung, um schneller anzukommen sei, die Fahrer besser zu schulen."

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung