"Der Geist ist aus der FLASCHE"

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Die arabische Revolution vor fünf Jahren war von großen Hoffnungen begleitet, die nun zum großen Teil zerschlagen sind. Was tun? Eine ägyptische Politologin im Gespräch.

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Die arabische Revolution vor fünf Jahren war von großen Hoffnungen begleitet, die nun zum großen Teil zerschlagen sind. Was tun? Eine ägyptische Politologin im Gespräch.

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Rabab el Mahdi ist Assistenzprofessorin am Institut für Politikwissenschaft der American University Cairo (AUC). Als Aktivistin engagiert sie sich bei mehreren Oppositionsgruppen. Sie war vergangene Woche auf Einladung des Wiener Instituts für internationalen Dialog und Entwicklung (VIDC) in Wien.

DIE FURCHE: Vor fünf Jahren wurde Ägypten despotisch regiert. Heute auch. Was hat sich verändert?

Rabab el Mahdi: Eine ganze Menge: die Gesellschaft und das politische System. Die Ägypter haben sich nachhaltig verändert. Sie sind jetzt überzeugt, dass sie ihr Schicksal selbst in der Hand haben. Sie haben verschiedene Präsidenten an die Macht gebracht, ob wir diese jetzt mögen oder nicht. Weder Mursi noch al Sisi wären ohne die Beteiligung des ägyptischen Volkes in ihre Position gekommen. Das hatte es vorher 40 Jahre nicht gegeben. Man sieht jetzt Frauen, die gegen sexuelle Belästigung auf der Straße eintreten und aufstehen. Wir sehen Leute, die sich über alles lustig machen, selbst über die politischen Institutionen, den Präsidenten und die Religion. Das waren vorher absolute Tabus.

DIE FURCHE: Inwieweit hat sich das politische System verändert?

El Mahdi: Es ist brutaler und repressiver als das unter Mubarak. Das ist ein Zeichen der Schwäche und zeigt, dass es sich vor dem Widerstandspotenzial fürchtet.

DIE FURCHE: Man hört täglich von willkürlichen Verhaftungen, Verschwundenen und Tod im Polizeigewahrsam. Richtet sich das vor allem gegen Islamisten oder gegen jede Art von Opposition?

El Mahdi: Ich bin seit 23 Jahren politisch aktiv und habe noch nie so ein Niveau an Repression erlebt. Unter al Sisi ist man von der selektiven zur flächendeckenden Repression übergegangen. Niemand ist davor sicher, verhaftet, gefoltert und zum Verschwinden gebracht zu werden. In der Haft wird man auch nicht ärztlich versorgt, und manche verhungern buchstäblich. Einer hat Selbstmord begangen, weil er im Gefängnis tagelang nichts zu Essen bekommen hat. Die Islamisten sind diesen Gefahren in höherem Maße ausgesetzt. Aber es kann jeden anderen Dissidenten genauso erwischen.

DIE FURCHE: Sind das die Leute aus dem Mubarak-Apparat oder andere?

El Mahdi: Es sind die Mubarak-Leute, die inzwischen durchgeknallt sind und eine persönliche Vendetta verfolgen. Sie sehen die Revolution als persönliches Versagen und wissen, dass dieses Regime nicht lange halten wird. Deswegen haben sie nur beschränkt Zeit, sich an allen, die sie für den Umsturz verantwortlich machen, zu rächen. Al Sisi hat nicht so viel Kontrolle wie Mubarak. Damals gab es einen nationalen Sicherheitsdienst. Jetzt haben wir vier, darunter zwei Geheimdienste und die Präsidentengarde. Sie machen einander Konkurrenz, und es kommt vor, dass sie Gefangene aus dem Gewahrsam eines anderen Dienstes entführen.

DIE FURCHE: Aber wo sind die Revolutionäre vom Tahrir-Platz? Beim Kampf um die Macht haben sie keine Rolle gespielt.

El Mahdi: Sie sind da. Es sind ja keine Aliens, sondern Ägypter aller möglichen politischen Richtungen. Einige haben Mursi gewählt, einige al Sisi, andere keinen von beiden. Es sind Millionen. Aber man kann nicht erwarten, dass die Menschen die ganze Zeit auf der Straße sind. Sie sind dort, wenn sie glauben, dass es Zeit ist für einen positiven Wandel. Das ist derzeit nicht so, also sind sie zu Hause. Viele Anführer sitzen außerdem im Gefängnis.

DIE FURCHE: Ist es ein Problem, dass es keine sichtbare Figur gibt, die diesen Sektor repräsentiert?

El Mahdi: Revolutionärer Wandel braucht Jahrzehnte. Er kann nicht durch den richtigen Anführer oder einen Wahlprozess ersetzt werden. Es ist ein Prozess, der mit Problemen konfrontiert ist. Verschiedene Bedingungen sind noch nicht gegeben. Eine starke Führung ist wichtig. Aber noch wichtiger ist ein Projekt, eine klare politische Alternative. Was halten die Ägypter für machbar? Welches Modell kann soziale Gerechtigkeit und Demokratie am besten herstellen? Wir brauchen einen Fahrplan, eine Roadmap. Wir sind noch nicht so weit. Das heißt aber nicht, dass daran nicht gearbeitet wird.

DIE FURCHE: Wenn wir an die persische Revolution vor 37 Jahren denken, dann sehen wir gewisse Parallelen: am Aufstand gegen den Schah waren die verschiedensten politischen Kräfte beteiligt, und jetzt regieren die Mullahs.

El Mahdi: Jede Revolution findet in ihrem Kontext statt. Ich glaube nicht, dass sich die Geschichte der iranischen Revolution in Ägypten wiederholt. Die Französische Revolution brauchte über 100 Jahre, um sich zu konsolidieren. Die Russische viel kürzer und die Chinesische noch kürzer. Das liegt nicht nur an den unterschiedlichen Akteuren, sondern auch an der Kommunikationsform. Ich denke, die Revolutionen des 21. Jahrhunderts werden nicht so lange brauchen. Die islamistische Herrschaft hat in Ägypten nicht lange gedauert. Die Menschen haben sie nach einem Jahr schon beendet.

DIE FURCHE: Was ist von der internationalen Gemeinschaft zu erwarten? Da wird in der Regel Stabilität mehr geschätzt als die Achtung der Menschenrechte.

El Mahdi: Ich würde zwischen den Regierungen und den Zivilgesellschaften unterscheiden. Regierungen setzen auf Stabilität. Deswegen haben sie Mubarak unterstützt und dann Mursi und al Sisi. Der Einsatz für Menschenrechte bleibt meist Lippenbekenntnis. Aber zum Glück hängen Revolutionen nicht von der internationalen Gemeinschaft ab. Die Leute nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand. Wir sind Mubarak und Mursi losgeworden. Und wir werden uns auch al Sisis entledigen.

DIE FURCHE: Haben wir nicht auch eine verzerrte Vorstellung von den Kräfteverhältnissen? Jene, die vor fünf Jahren am Tahrir-Platz für Menschenrechte und Demokratie demonstrierten, repräsentieren vielleicht nicht jene eher konservative Mehrheit, die für Brot und Arbeitsplätze auf die Straße ging.

El Mahdi: Ich teile diese Meinung nicht. Diese Grundbedürfnisse sind nicht weniger wichtig als intellektuelle Forderungen. Demokratie ist keine philosophische Idee, sondern ein System, das Antworten auf die Nöte und Bedürfnisse der Menschen geben kann. Da geht es um Nahrungsmittel genauso wie um das Recht, auf der Polizeistation nicht misshandelt zu werden. Solange das nicht erfüllt ist, werden Menschen für einen Wandel eintreten, das gilt für die aufgeklärte Stadt genauso wie für das konservative Land.

DIE FURCHE: Hält der gesellschaftliche Wandel mit dieser Entwicklung Schritt?

El Mahdi: Aber ja. Vor zehn Jahren haben nur feministische Aktivistinnen die sexuelle Belästigung als Problem angesprochen. Jetzt vergeht kein Tag, an dem nicht eine Frau das Foto von einem Verfolger öffentlich macht. Viele junge Menschen leben heute allein, was früher für Ledige undenkbar war. Als ich meine eigene Wohnung beanspruchte, haben meine Eltern fast einen Herzanfall bekommen. Jetzt ist das fast normal. Daran sieht man, dass immer mehr Menschen die Religion und andere Tabus in Frage stellen. In den sozialen Medien wird alles diskutiert: von Stellungen beim Sex bis zu religiösen Fragen.

DIE FURCHE: Der Historiker Khaled Fahmi hat gesagt: "Der Geist ist aus der Flasche".

El Mahdi: Ja. Und Gorbatschow hat geschrieben, keiner kann die Zahnpasta in die Tube zurückquetschen. Wir haben die Zahnpasta rausgedrückt.

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