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Es gibt im ganzen Jahr keinen kirchlichen Festkreis, bei dem die Zeit eine so wichtige Rolle spielt wie im Advent und zu Weihnachten. Ein Plädoyer für Zeitsouveränität.

In meiner Wahrnehmung gibt es kein kirchliches Fest, bei dem Zeit eine so wichtige Rolle spielt wie Weihnachten. Das beginnt schon bei den biblischen Texten, welche die Liturgien des Advents und der Weihnachtsfesttage prägen: Die Propheten-Texte des Ersten Testaments, allen voran Jesaja, ermutigen zu einem hoffnungsfrohen Zugehen auf eine gute Zukunft für die gesamte Schöpfung, insbesondere für jene Menschen, die unter den (ungerechten) Herrschaftsverhältnissen der Gegenwart leiden; und die Bibelstellen rund um die Geburt Christi selbst machen wiederholt historische Zeitangaben mit dem erkennbaren Ziel, die Menschwerdung Gottes in unserer menschlichen Zeit zu verankern.

Auch im vorweihnachtlichen Brauchtum wird Zeit stark thematisiert; man denke nur an die Zeitzählfunktion von Adventkranzkerzen und -kalendern. Kindern kann diese Zeitzählung in der Regel nicht rasch genug voranschreiten; groß ist für sie stets die Versuchung, gleich alle vier Kerzen am Kranz anzuzünden bzw. alle Türen ihres Adventkalenders auf einmal zu öffnen, und die Advente werden so für sie zum wichtigen Lernraum für die Einübung von Geduld.

Erwachsene erleben den Advent heute in der Regel genau gegenteilig: Die Klage, die ehemals "stillste und ruhigste Zeit im Jahr" sei zu erschöpfendem Dauerstress und finaler Jahresumsatzjagd mutiert, ist zum Gemeinplatz geworden, und die damit beschriebene Zeitnot wird zwar von manchen noch mit Bedauern, von den meisten aber als anscheinend unveränderlich hingenommen.

Zeit-Erleben von Kindern und Erwachsenen

Dabei könnte gerade das unterschiedliche Zeit-Erleben von Kinder- und Erwachsenenwelt im Advent auf eine wesentliche Charakteristik der Lebensdimension Zeit aufmerksam machen: Zeit ist zwar einerseits eine objektive Konstante, begrenzt und nicht beliebig vermehrbar; zugleich aber ist Zeit durch den Menschen subjektiv erleb-, gestalt- und insofern auch veränderbar. Das gilt - von den Gedankenexperimenten der Relativitätstheorie abgesehen - natürlich nicht für das naturwissenschaftliche Zeitverständnis, für welches das Alt-Griechische den Begriff des \0x03C7\0x03C1\0x03CC\0x03BD\0x03BF\0x03C2 (Chronos) kennt: also die mechanisch und monoton Sekunde um Sekunde ablaufende, unmenschlich kalte Zeit der Chronometer, die gleichgültig und unbeeindruckt von der Qualität eines Ereignisses einfach fortläuft wie eben deren Zeiger.

Von Zeitphilosophen und Theologen wird aber gerne darauf hingewiesen, dass in unserer hoch technisierten Epoche der andere, weitaus interessantere Zeitbegriff der Antike dagegen leider in Vergessenheit geraten beziehungsweise in die Bedeutungslosigkeit abgeschoben worden ist: Zeit als \0x03BA\0x03B1\0x03B9\0x03C1\0x03CC\0x03C2 (Kairos), was soviel meint wie qualitative Zeit; Kairos - das ist der einmalige, unwiederholbare Zeitpunkt für etwas, der "richtige" Augenblick, um etwas zu sagen, zu tun, zu entscheiden und damit nicht nur den Lauf der Zeit zu verändern, sondern den Lauf des Lebens überhaupt. Kairos - das ist Zeit, in der sich Sinn und Gelingen menschlichen Lebens entscheiden, wenn sie recht-zeitig erkannt, ergriffen und genutzt wird. Kairos - das ist also letztlich auch (zumindest subjektiv) gestaltbare Zeit, insofern sie eben ergriffen, bewusst genutzt und gefüllt oder aber auch bewusst ungenutzt gelassen werden kann.

Zeitphilosophische Kritik an der Moderne

Vielleicht aber ist sogar das Gegenteil der zeitphilosophischen Kritik an der Moderne wahr: dass dieser kairologische Zeitbegriff in der Moderne nämlich alles andere als bedeutungslos und vergessen worden ist! Könnte es nicht vielmehr sein, dass gerade die Erkenntnis, Zeit sei immer auch durch den Menschen gestaltbar, "füllbar", nutzbar, genau jenem Machbarkeitsdogma Vorschub leistet, das unbestritten ein Kennzeichen der Moderne ist? Wir besitzen mittlerweile ja die technische Fähigkeit, Zeit in unvorstellbar kleine Maßeinheiten zerlegen und auf diese Weise etwa technische Prozesse optimieren, das heißt aber auch zeitliche Abläufe bewusst gestalten und nutzen zu können! Auch im Bereich der Ökonomie, deren Rationalität zusehends auf alle, nicht nur die wirtschaftlichen Lebensbereiche übergreift, geht es sehr wesentlich darum, die begrenzte Ressource Zeit optimal zu nutzen, genau zu diesem Zweck aber kulturell gewachsene, ja sogar kosmisch oder biologisch bedingte Zeitstrukturen zu manipulieren.

Diese Betrachtung aber legt die Vermutung nahe, dass die allgegenwärtige und im Advent besonders spürbare Zeitnot der modernen Erwachsenenwelt gerade nicht die Selbstunterjochung des Menschen unter den gleichmäßig tickenden Chronos zur eigentlichen Ursache hat, sondern vielmehr den mit dem ökonomistischen Motto "Zeit ist Geld" begründeten Machbarkeitswahn, der auch vor der menschlichen Lebenszeit nicht mehr Halt macht und diese beliebig zu manipulieren versucht.

An dieser Stelle setzen aktuelle gesellschaftspolitische Bewegungen ein, die sich dem Kampf gegen die moderne Zeitnot verschrieben haben: "Vereine zur Verzögerung der Zeit" gehören dazu ebenso wie die mittlerweile auch außerhalb Österreichs sich formierenden "Allianzen" zur Verteidigung von Sonn- und Feiertagen als verbindliche gemeinsame Zeiten innerhalb einer Gesellschaft gegen den Zugriff vor allem wirtschaftlicher Interessen. Entsprechend der politischen Tradition zivilgesellschaftlicher Basisbewegungen spielt dabei der Begriff der "Souveränität" über ein zu verteidigendes beziehungsweise zu erstreitendes Gut eine wichtige Rolle - im Falle der Zeitpolitik eben "Zeitsouveränität". Hier aber ist vor einem verhängnisvollen Missverständnis zu warnen: Die moderne Zeitnot wird gerade nicht dadurch behoben, dass der einzelne Mensch gegenüber der Zeit selbst zum unumschränkt schaltenden Souverän wird; er muss seine Zeitsouveränität bestenfalls gegenüber gesellschaftlichen Kräften wahren bzw. erkämpfen, die ihn mit seinen persönlichen wie sozialen Ressourcen ihren eigenen Zeitnutzungsansprüchen unterwerfen wollen.

An der eigentlichen Wurzel des Problems geht es aber darum, die Souveränität, also die Unantastbarkeit und Unveränderlichkeit der Zeit selbst wieder anzuerkennen und der menschlichen Manipulierungswut zu entziehen. Es geht um die (Wieder-) Anerkennung jener Zeitfristen, -rhythmen und -strukturen, die nicht nur biologische, sondern etwa auch psychische, zwischenmenschliche und gesellschaftliche Prozesse einfach benötigen, um lebensdienlich ablaufen zu können.

Zeit muss gerade auf diese Weise zur absoluten Maßeinheit menschlichen und gesellschaftlichen Wohlstands werden. Zeitwohlstand würde dann aber bedeuten, dass weder Einzelne noch gesellschaftliche Einheiten einfach frei und nach Belieben über ihre Zeit verfügen können, sondern dass ihnen vielmehr das Recht zugestanden wird, jenen Zeitabläufen entsprechend zu leben, die ihre persönliche wie soziale Entwicklung eben benötigt.

Mehr als zeitpädagogische Hilfsmittel

Die Adventkalender der Kinder und die Adventkränze mit ihren die Wochen ebenso unbeeindruckt von menschlichem Zutun zählenden Kerzen wie die Sekundenzeiger der Atomuhren können genau in diesem Sinn nicht nur als heute mehr denn je notwendige zeitpädagogische Hilfsmittel dienen; sie sind geradezu prophetische Erinnerungsmale für die dem menschlichen Leben höchst zuträgliche Unverfügbarkeit der Zeit und Symbole im Kampf gegen Zeitnot bzw. für Zeitwohlstand. Übrigens - der Begriff des Advents enthält selbst jene lebenswichtige Konnotation der Unverfügbarkeit von Zeit: Advent heißt übersetzt Zukunft - und verheißt eine (gute) Zukunft, die sich der Mensch nicht selbst machen kann, sondern die ihm unverfügbar frei zukommt - geschenkt vom alleinigen Herrn der Zeiten.

Der Autor ist Hochschulseelsorger in Linz und Direktor der Katholischen Sozialakademie Österreichs (ksoe) in Wien.

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