Der inszenierte "normale Mensch"

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Wir sollten nicht über Taxi Orange schimpfen. Sondern versuchen, davon zu lernen.

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Wir sollten nicht über Taxi Orange schimpfen. Sondern versuchen, davon zu lernen.

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Der Fairness halber muss ich ein Geständnis ablegen: Ich habe Taxi Orange geschaut. Nicht nur einmal. Allein und mit anderen. In intellektuellen Kreisen bin damit unten durch. Ich kann nicht einmal vortäuschen, ich hätte das bloß aus fast wissenschaftlichen Gründen getan - um in der intellektuellen Debatte mitreden zu können. Ich tat es sozusagen aus freien Stücken, zum Vergnügen. Ich habe sogar angerufen, um meiner Favoritin Andrea meine Stimme zu geben. Wenn ich mich so oute, werden Sie verstehen, dass ich mich am allgemeinen ORF-Bashing nicht beteiligen kann.

Nun ist es natürlich nicht so, dass mich alle kritischen Geister verlassen hätten und ich nicht auch die problematischen Seiten wahrnehme. Nur: Ich kann nicht einsehen, warum TXO niveauloser sein soll als Gottschalk oder Musikantenstadl oder früher Heinz Conrads. Und ich wünsche mir ein starkes, unabhängiges öffentlich-rechtliches Fernsehen. Kommerzieller Erfolg im Unterhaltungssektor freut mich; Werbeeinnahmen auch. Wenn nur die Berichterstattung scharf und kritisch, der Einfluss der Politik gering, der Horizont weit und bunt ist. Dass ein Fernsehprogramm "privatisiert" werden soll, erregt mich - aber wo ist hier eine öffentliche Debatte? Es ist ungeheuerlich, wenn Regierungsparteien - frühere wie jetzige - schamlos Druck auf Redaktionen ausüben. Aber würde die österreichische Zivilgesellschaft wie die tschechische auf die Straße gehen, um "ihren" ORF zu verteidigen? Die Aufregung um TXO gleicht eher einer Seifenoper - wenn man nur aufpasst, dass die Seife nicht in die Augen kommt und den Blick vernebelt. Denn vielleicht kommt die ORF-Kritik einigen durchaus gelegen, es könnte ja sein. Aber (Sie erinnern sich): Ich bin nicht objektiv. Ich schaute TXO.

Dennoch finde ich es lohnend, über das Phänomen Reality TV nachzudenken. Zweifelsohne sagt es etwas aus über den Zeitgeist, also über uns. Und der Zeitgeist hat es so an sich, dass er nicht nur in einem Phänomen erscheint - also etwa in TXO - sondern an verschiedenen Punkten in Erscheinung tritt - aber wo? Und: Können wir mit ihm segeln, in als Dynamo nutzen, statt ihn schmollend zu bekämpfen?

Eine Veranstaltung von "Land der Menschen". Ort: Volkshochschule Favoriten. Anwesend: rund 170 Menschen, angelockt wohl auch durch eine Person: Alfred Dorfer. Kein Kabarett, sondern ein Gesprächsabend. Thema: Das Zusammenleben von "Inländern" und "Ausländern" in Wien. Ein weites Feld also. Dorfer ist ein begnadeter Schauspieler, aber ein unerfahrener Moderator. Er sagt zu Beginn einige dürftige Sätze - dann geht's los. Ein Funkmikrofon steht zur Verfügung. Es wird einfach weitergereicht. Da der Saal groß ist, gibt Dorfer sehr bald auch sein Funkmikro für die vordere Saalhälfte ab. Ich erstarre: Das kann nicht gut gehen. Es geht gut, fast zwei Stunden lang. Die Teilnehmenden moderieren sich selbst. Reichen das Mikro an denjenigen weiter, der ein Handzeichen gegeben hat. Es geht persönlich zu: Ein arabischer Arzt schimpft auf islamische Fundis, die seine Ehe mit einer österreichischen Frau nicht anerkennen wollen. Eine Favoritnerin kriegt eine "Gänsehaut", wenn sie in der Straßenbahn kein deutsches Wort mehr hört. Ein Pole erzählt, wie nach Monaten Eiszeit mit seiner alten Nachbarin, die keine "Polacken" mag, durch das Ausborgen von etwas Salz das Eis gebrochen werden konnte. Er plädiert für Geduld miteinander. Ein Muslim nimmt Bezug auf den arabischen Arzt und beharrt darauf, dass nicht alle religiösen Muslime Fundamentalisten sind. "Wollen sie etwa den Ausländern verbieten, in ihrer Sprache zu reden?", erbost sich ein junger Bursch über die Frau von der Straßenbahn. "Ich finde es wichtig, dass die Frau sagen kann, wie es ihr geht. Man muss auch über solche Gefühle reden können", interveniert eine ältere Dame. Viele verschiedene Leute kommen zu Wort. Sie lassen einander ausreden, gehen aufeinander ein. Dorfer moderiert schon längst nicht mehr, er ist nur mehr anwesend. Nach fast zwei Stunden angelt er sich ein Funkmikro und schließt die Veranstaltung. Die Direktorin der Volkshochschule und ich sind verblüfft. Selten haben wir eine so gute Veranstaltung erlebt - und zugleich eine, die so ganz ohne das sonstige Instrumentarium der Erwachsenenbildung auskam.

Ähnliche Veranstaltungen - ohne Alfred Dorfer - haben wir seither öfter gemacht: Einige Menschen erzählen zu Beginn kurz aus ihrer Erfahrung sagen (z.B. eine Lehrerin, ein ägyptischer Pizzarestaurantbesitzer, ein indischer Mesner, eine Mitarbeiterin des Integrationsfonds, ein muslim. Bauingenieur - "Menschen wie du und ich"), dann kann jeder und jede sagen, was ihn bewegt. Es waren immer sehr spannende und anregende Abende - emotional, aber ohne Streit; nachdenklich, aber ohne belehrenden Anspruch.

Viele Veranstaltungsplaner sind skeptisch, ob ein so einfaches Veranstaltungsdesign funktioniert. Sie denken in Kategorien von rhetorisch und inhaltlich hervorragenden ReferentInen, von didaktisch durchkomponierten Abenden mit vielfältigen Methoden. Aber einfach nur reden?

Im TV gibt es neben den durchgestylten Shows, den aufwendigen Filmen mit spannenden Handlungen und berühmten Schauspielern ein neues Erfolgsprodukt: "normale Menschen", keine Berühmtheiten. Die Banalität des Alltags (essen, schlafen, kochen, taxifahren), nichts Aufregendes passiert. Das Spannende ereignet sich im Prozess - unvorhersehbare, ungeplant. Die Sehnsucht nach dem Authentischen, Echten, dem Alltäglichen steht wohl dahinter. Auch ein neues Gespür für die Abenteuer des Alltags, das Abenteuer Beziehung. Wir sollten auf diesen Zug aufspringen, weil er auch für Bildung und Pastoral Chancen bietet.

Vielleicht wollen Sie jetzt aufschreien: "Aber TXO ist doch die auf die Spitze getriebene Stylisierung und Künstlichkeit!" Sie haben natürlich recht. Sowohl Medien als auch Veranstaltungen sind per se "künstlich" und nicht die Normalität selbst. Aber es gibt diese neue Sehnsucht nach dem Persönlichen und Unspektakulären. Warum sollten wir sie nicht nutzen? Ich plädiere also dafür, authentische Menschen und ihre Erfahrungen zu inszenieren. Gerade bei emotional schwierigen und gesellschaftlich kontroversiellen Themen kann eine solche Inszenierung fruchtbarer sein als ein gelehrter Vortrag, ein Podiumsdiskussion unter ExpertInnen oder eine durchstrukturierte Seminarveranstaltung. Schimpfen wir nicht, sondern lernen wir von Taxi Orange!

Die Autorin ist Koordinatorin von "Land der Menschen".

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