Der lange Weg nach Europa

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Am 25. und 26. September wählen die Slowaken ein neues Parlament. Steht das Land vor einer politischen Wende? Oder kann sich der autoritäre Regierungschef Vladimir Meciar noch einmal behaupten?

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Am 25. und 26. September wählen die Slowaken ein neues Parlament. Steht das Land vor einer politischen Wende? Oder kann sich der autoritäre Regierungschef Vladimir Meciar noch einmal behaupten?

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Die Fahrt von Wien nach Preßburg dauert nur eine Stunde. Doch die beiden europäischen Hauptstädte trennen Welten. Der Lebensstandard fällt schon auf den letzten zehn Kilometern auf österreichischer Seite. Die frisch getünchten Häuser der Straßendörfer werden ein wenig grauer, dann stehen nur noch ein paar verwaiste Rohbauten und überwucherte Ruinen im Grenzland. Am Horizont wachsen Häuser wie dunkle Termitenbauten in den Himmel. Dort, knapp fünf Kilometer hinter der Grenze, liegt Preßburg mit 450.000 Einwohnern. Viele Wiener fahren am Abend sogar auf einen Sprung zu einer Opernaufführung im slowakischen Nationaltheater hinüber. Nur 500 Schilling kostet ein Pauschalarrangement, das Busfahrt, Eintrittsbillet und Abendessen inkludiert.

Es ist nicht ratsam, die 60 Kilometer mit dem eigenen Auto zurückzulegen. Denn täglich verschwinden in Preßburg bis zu 40 westliche Fahrzeuge. Die Polizei kämpft vergeblich mit der zunehmenden Beschaffungskriminalität. Laut offizieller Statistik hat sich die Verbrechensrate in den vergangenen Jahren verdreifacht. Das prominenteste österreichische Opfer war Ex-Finanzminister Hannes Androsch, der seinen Wagen direkt vor dem Regierungssitz geparkt hatte: Als er nach einem einstündigen Gespräch wegfahren wollte, war das Auto verschwunden.

Der Wiener Privatdetektiv Norbert Goliasch, der für österreichische Versicherungen Diebstahlsfälle in der Slowakei überprüft, erzählt, daß ständig Abschleppwagen durch ganz Preßburg fahren und teure Autos einfach abtransportieren. Hartnäckig halten sich Gerüchte, wonach die Polizei mit den Autodieben zusammenarbeitet. Je niedriger der Lohn, desto höher die Korruption, so Goliaschs Analyse.

Bewachte Boutiquen Preßburg ist eine Metropole voller Gegensätze. In der Fußgängerzone zeigen die Menschen, daß sie sich gerne gut anziehen, auch wenn sie nicht allzu viel Geld haben. Manche allerdings sind nach den Regeln der Privatwirtschaft auch schon reich geworden, was sie mit Handys und Luxuskarossen zur Schau stellen. Mit Videokameras bewachte Boutiquen werben in der Altstadt um Kunden. Die Barockfassaden der Paläste mit klingenden Namen wie Palffy oder Esterhazy werden aufwendig renoviert. In der gotischen Kathedrale St. Martin tummeln sich die Touristen. Stark besucht ist auch die Burg - wegen ihrer vier Ecktürme im Volksmund "das umgedrehte Bett" genannt. Vom ehemaligen Königssitz, in dem sich jetzt das Nationalmuseum befindet, gibt es einen herrlichen Ausblick über die ganze Stadt.

Nur wenige Kilometer vom Zentrum entfernt herrscht jedoch Armut und Trostlosigkeit. Auf der anderen Seite der Donau liegt Petrzalka, mit 150.000 Einwohnern größter Stadtteil Preßburgs. 20stöckige Betonbauten reihen sich endlos aneinander, umgeben vom Gestank fauler Eier, der von der nahegelegenen Raffinerie Slovnaft herüberzieht. Seit der Wende 1989 hat sich hier nichts zum Guten verändert. Im Gegenteil. Jeder zweite hat keine Arbeit, alle zwei Minuten passiert ein Verbrechen. Im Amtsgebäude von Petrzalka sitzen die Beamten vor langen Karteikästen, gefüllt mit insgesamt 10.000 Kärtchen. Für jeden straffälligen Jugendlichen gibt es eine Karte. Was früher als Gerücht abgetan wurde, ist inzwischen traurige Wirklichkeit: Hunderte Schüler sind heroinabhängig. Das Geld für das Rauschgift treiben Schlägerbanden von den Eltern ein. Wer die Bezahlung verweigert, dessen Wohnung wird zu Kleinholz gemacht.

Dabei geht es der Slowakei wirtschaftlich gar nicht so schlecht. Für einschlägige Experten grenzt es an ein Wunder, daß sich der neue Staat mit seinen 5,4 Millionen Einwohnern nach der Unabhängigkeit im Jänner 1993 nicht nur behaupten, sondern in den ersten Jahren sogar mit hohem Wachstum, moderater Inflationsrate, stabiler Währung und Überschüssen in der Handels- und Leistungsbilanz glänzen konnte. Dem Land als dem wirtschaftlich schwächeren Teil der ehemaligen Tschechoslowakei wurde ein schwerer Start prognostiziert, was in den ersten Monaten auch stimmte. Jan Stankowsky, der Ostexperte des Wirtschaftsforschungsinstituts (Wifo), hat für die darauffolgende Trendumkehr eine verblüffende Theorie: "So problematisch die Wirtschaftspolitik der Regierung von Ministerpräsident Vladimir Meciar auch sein mag, so zeigt sie doch gewisse Komponenten einer Singapur-Demokratie. Das heißt, durch die Insider-Privatisierung an Freunde des Herrn Meciar und durch die vom Staat niedrig gehaltenen Löhne gelangte eine junge Generation von Managern zu Eigentum. Meine Hoffnung ist, daß sich diese Unternehmer jetzt von der Regierung emanzipieren."

Die Österreicher waren am Aufschwung wesentlich mitbeteiligt. Ob Banken und Firmen wie Bank Austria, Creditanstalt, Eduscho, Julius Meinl, Palmers, Wienerberger: österreichische Unternehmen sind in der Slowakei als erste Investoren aufgetaucht und haben bis heute rund 20 Prozent des Auslandskapitals, in Summe stolze 1,8 Milliarden Schilling, gestellt. Deutsche und tschechische Investoren belegen die Plätze zwei und drei. Neue Großvorhaben von Österreichern sind derzeit aber nicht in Sicht. Eine rare Ausnahme: Die Betreiber des Flughafens Wien-Schwechat bekunden großes Interesse an einer Kooperation mit dem Preßburger Airport.

"Unsere Unternehmer waren lange Zeit sehr risikofreudig", erklärt der in Preßburg ansässige Außenhandelsdelegierte der österreichischen Wirtschaftskammer, Philipp Marboe. "Auch wenn jetzt das Engagement verflacht, sichern wir hier nach wie vor mehr als 10.000 Arbeitsplätze." Allerdings habe es in letzter Zeit auch Probleme gegeben. Marboe betont, daß nirgendwo sonst in den östlichen Nachbarländern die Diskrepanz zwischen wirtschaftlichem Erfolg und politischen Mißtönen so groß ist wie in der Slowakei. "Es ist eine Tatsache, daß die Wirtschaft entgegen allen Prognosen die ersten Jahre der Eigenstaatlichkeit sehr gut gemeistert hat. Das kann man von der Politik wahrlich nicht behaupten."

Mit Spannung wartet man daher auf den Ausgang der Parlamentswahlen am 25. und 26. September. Denn die Chancen, die Ära von Vladimir Meciar zu beenden, standen noch nie so gut wie jetzt. Der Regierungschef, der das Land mit seinem autoritären Stil aus dem Kreis der ersten Anwärter für die Mitgliedschaft bei der NATO und der EU hinauskatapultiert hat, steht vor einer breiten Front innenpolitischer Widersacher. Zu ihr gehört die "Slowakische Demokratische Koalition" (SDK), ein Bündnis aus fünf Parteien, das sowohl Christdemokraten als auch Sozialdemokraten und Grüne vereint. Nach jüngsten Meinungsumfragen liegt die SDK knapp hinter Meciars Bewegung für eine "Demokratische Slowakei" (HZDS).

Jahrelang haben sich die Oppositionsparteien in der politischen Auseinandersetzung als unfähig erwiesen. Im Parlament hatten sie sich von den HZDS-Mannen eiskalt ausbooten lassen. Über die Frage, wie weit man sich mit Meciar einlassen dürfe, sind Vorsitzende gestolpert, Fraktionen zerrissen und Parteien zersplittert. Da war gebanntes Starren, Verwunderung, Angst, Kopfschütteln über so viel Unverfrorenheit des Gegners - aber es gab keine Strategie. Erst jetzt rafft sich die Opposition endlich zusammen und tritt mit einer gemeinsamen Plattform gegen die HZDS an.

Kein Wunder, daß Meciar alles versuchte, die Opposition auszuschalten. Er wollte mit einer Klage beim Preßburger Höchstgericht die Kandidatur der SDK für ungültig erklären lassen. Seine Begründung: Die SDK sei gar keine Partei, sondern eine Koalition aus fünf unterschiedlichen politischen Gruppierungen. Und bei einer Wahl könnten nur offiziell registrierte Parteien kandidieren. Doch Mitte August wies das Höchstgericht Meciars Klage ab.

Minderheitenpolitik Für Aufregung sorgt im Wahlkampf auch die Behandlung der ungarischen Minderheit, die 15 Prozent der Bevölkerung ausmacht. So verweigerten zu Schulschluß Anfang Juli fast die Hälfte der Schüler in den ungarischen Minderheitsgebieten die Annahme der Zeugnisse. Und zwar nicht nur jene Schüler, die sich wegen schlechter Noten nicht nach Hause trauten, sondern der Protest galt der Tatsache, daß die Zeugnisse zur Gänze in slowakischer Sprache geschrieben waren. Die Ungarn bestehen darauf, daß Dokumente zweisprachig ausgestellt werden.

Das Preßburger Parlament hat die Beratungen über ein neues Schulgesetz auf die Zeit nach den Wahlen verschoben. Der von Meciar eingebrachte Gesetzesentwurf sieht die Einschränkung der ungarischen Sprache auch in anderen Bereichen vor. So sollen etwa die Fächer Geschichte und Geographie auf slowakisch unterrichtet werden, und zwar nach Lehrbüchern und Lehrplänen, die vom slowakischen Unterrichtsministerium ausgearbeitet werden. Die Ungarn wollen solche Maßnahmen nicht hinnehmen.

Schon einmal brachte die HZDS im Preßburger Parlament ein Gesetz gegen die Minderheit ein, wonach die Bürger bei den Behörden ihre Anliegen nur in slowakischer Sprache vorbringen dürfen. Das Höchstgericht hat nach einer Klage der Oppositionsparteien die umstrittene Regelung aufgehoben, worauf Meciar sofort die Aussiedlung aller nationalen Minderheiten vorschlug. Die Europäische Union reagierte auf solche Aussagen empört. Erst kürzlich erklärte Deutschlands Außenminister Klaus Kinkel: "Wenn die Slowakei demnächst keine konkreten Schritte für die Stärkung der Minderheiten setzt, wird es auch in den nächsten Jahren keine Beitrittsverhandlungen mit der EU geben."

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