Der Mensch als Teil eines großen Flusses an Energie

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Ibelieve in Energy.“ So formulierte Stanley Hall, Gründer der Clark University, der zweitältesten Universität der USA, sein Glaubensbekenntnis. Ein Bekenntnis, das sich zunehmend verbreitet, denn Esoterik boomt seit Jahren. In den Buchläden häuft sich esoterische Literatur. Edelsteine werden auf den Körper gelegt, um die Konzentration zu fördern. Lebensentscheidungen werden ausgependelt und Karten gelegt, um die Herkunft und die Zukunft des Einzelnen zu deuten, ihr oder ihm eine Anleitung zu Verständnis und Sinn des Lebens zu bieten.

Energie ist das wesentliche Element der esoterischen Gedankenwelt. Diese Energie gehe von der Natur aus. Diese bringe als eine selbstwirkende Kraft alles hervor. Der Mensch habe die Aufgabe, sich in diesen Energiefluss einzugliedern und sich davon treiben zu lassen, damit seine Entwicklung zum Guten möglich werde.

„Esoterik findet in unserer Gesellschaft großen Anklang, weil wir in einer moralischen Gesellschaft leben“, sagt Susanne Heine, Professorin für Praktische Theologie an der Evangelischen Fakultät der Universität Wien. Und sie sagt zur Begründung ihrer These: „Wir sind für alles selbst verantwortlich. Das ist eine große Belastung, wenn nicht sogar Überlastung.“

Esoterik als Entlastung

Die Theologin sieht in den esoterischen Ansätzen sogar eine Erleichterung für den Einzelnen: „Wir leben in einer gnadenlosen Gesellschaft, weil das christliche Gnadenverständnis in unserer Gesellschaft keine Rolle mehr spielt“, so Heine, „da sind esoterische Konzepte eine riesige Entlastung. Wenn ich mich nur dem Energiefluss aussetze, dann kann ich nicht fehlgehen und brauche keine Moral, weil sich ja alles zum Besten entwickelt. Dann wird im wahrsten Sinne des Wortes alles wieder gut.“ Einen weiteren Grund für den „Esoterikboom“ sieht Heine in der übermäßigen Betonung der Lehre und der Vernachlässigung der Spiritualität durch die Kirchen. Diese könnten oft die Welt der Bedeutsamkeit, die hinter den Religionen stecke, nicht entfalten und würden auf die Moral ausweichen. Heine: „Nach meiner Erfahrung nehmen Moralpredigten jedenfalls den größeren Teil ein. Dabei würde mehr Evangelium guttun.“ Diese „esoterischen Sachen“ seien ein Evangelium. Sie vermitteln den Menschen „du wirst gehalten“, „du bist beschützt“ oder „du bist nicht verloren“.

Die Esoterik wende sich aber im Unterschied zum Christentum gegen das eigenständige Denken des Menschen. Dieser sei als Person unwichtig, denn er sei lediglich Teil des großen Flusses an Energie. Darin sieht Heine eine „Vernachlässigung, wenn nicht sogar Verachtung der Individualität“: „Wir Menschen sind Individuen. Das ist das Entscheidende des Christentums. Im Matthäus-Evangelium steht: ‚Jedes Haar auf deinem Haupt ist gezählt.‘ Als Person entspräche es dem Menschen, dass er Gott als Gegenüber ansprechen könne, als Du.“ Der Mensch sei, erklärt Heine, darauf angelegt, mit einem Du zu kommunizieren.

Starker Glaube an die Natur

Der deutsche Theologe Klaus Peter Jörns, Professor an der Humboldt-Universität Berlin, veröffentlichte vor zehn Jahren seine Untersuchung unter dem Titel „Was Menschen glauben“. Bei der Umfrage unter Laien und unter Klerikern stieß der Wissenschafter auf etwas, was er gar nicht gesucht hatte, nämlich das esoterische Grundkonzept eines starken Glaubens an die Natur. Heine: „Er nennt sie die Transzendenzgläubigen, ich nenne sie die Naturgläubigen. Jörns wundert sich noch, dass für viele Leute die Natur eine so große Rolle spielt, wo sie doch in der Stadt wohnen und dort von der Natur nichts zu sehen ist.“

Der Einfluss esoterischer Theorie und Praxis hat indes auch die Pädagogik erreicht. Der neue evangelische Oberkirchenrat Karl Schiefermair kritisiert dies heftig: „Manche Lehrer scheinen mit magischen Praktiken ihre Pädagogik aufbessern zu wollen. Sie machen Yoga-Übungen oder legen Edelsteine auf, ohne den Hintergrund näher zu erklären.“ Schiefermairs Kritik richtet sich dabei gegen den allgemeinen Unterricht, will aber den evangelischen Religionsunterricht nicht ausnehmen. „Der Religionsunterricht muss einen kritischen Umgang mit allen Religionen pflegen“, erklärt Schiefermair.

Auch Heine sieht eine Gefahr in der Vermischung esoterischer Modelle mit der christlichen Theologie. „Die Begriffe in der Esoterik und im Christentum unterscheiden sich grundsätzlich. Gott ist eben nicht das Selbst oder die Natur“, so die Theologin. Das Problem sei, dass das christliche Profil verloren gehe, von den Suchenden nicht mehr vorgefunden werde. Heine: „Dabei ist gerade das Christentum eine Religion, die existenziell sehr berührend sein kann.“ (k.j.)

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