"Der Mensch, ein gefallener Engel"

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Der Schweizer Soziologe Peter Gross brachte vor zehn Jahren den Begriff der "Multioptionsgesellschaft" mit seinem gleichnamigen Buch in die Diskussion. Im furche-Interview spricht er über den Drang des "fortschrittsbeseelten" Menschen zur Grenzüberschreitung, über Wahlverwandtschaften und virtuelle Netzwerke sowie über die Überalterung der Gesellschaft.

Die Furche: In Ihrem Buch "Ich-Jagd" beschreiben Sie das moderne Individuum als Wesen, das auf sich selbst gestellt ist und nach Selbstverwirklichung trachtet. Was treibt den Einzelnen dazu, vor sich wegzulaufen beziehungsweise hinter sich herzujagen?

Peter Gross: Was den Einzelnen antreibt, ist ein tief in die modernen Gesellschaften eingemeißelter und ins Herz des modernen Menschen implantierter Wille zur Steigerung, zum Vorwärts, zum Mehr. Der Mensch ist immer schon ein Schwebewesen, das zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit existiert. Der Mensch kann nie wie Gott auf die Frage: "Wer bist Du?" sagen: "Ich bin der ich bin"(Exodus 3,14). Der Mensch ist ein gefallener Engel oder ein metaphysisches Tier. Er hat die Instinktsicherheit verloren. Der fortschrittsbeseelte Mensch hat den inneren Drang, immer wieder Grenzen zu überschreiten. Er ist am liebsten dort, wo er noch nicht ist. Sein Leben ist eine Folge von Entscheidungen. Was früher dem Souverän vorbehalten war, nämlich willkürlich zu entscheiden, scheint heute zu einer Tugend zu werden. Das Individuum erhebt sich selbst zum letzten Gott.

Die Furche: In einem Artikel mit dem Titel "Die Zukunft der Erlösungsreligion" schreiben Sie: "Die Menschen wollen nicht nach dem Tod, sondern lebendigen Leibes in den Himmel". Welche Rolle spielt dann noch die Religion für die Gesellschaft?

Gross: Seit der Himmel leergefegt, das Jenseits ins Diesseits gefallen ist und Gott in uns selbst Platz genommen hat, ist das entscheidende Charakteristikum der Erlösungsreligionen, nämlich der Erlösungswille, verblasst. Und seit die christliche Heilserwartung zu einem weltlichen Futurismus mutiert ist, will der Mensch sein Glück nicht im Himmel, sondern auf Erden finden. Der westliche Fortschrittswille hat die christliche Heilserwartung verweltlicht. Sie verwandelt sich in jene diesseitige Welt- und Menschenverbesserungsvorstellung, die uns antreibt. Die überragende Leitfigur der Moderne ist der autonome, mündige Mensch, der im Privatleben und im Geschäft zwar weiß, dass er handeln und entscheiden muss, aber sich nicht vorschreiben lassen will, wie. Während wir einen Herbst der Erlösungsreligionen erleben, entsteht gleichzeitig eine bunte Schar von Sekten und Kulten, die für weltliches Wohlbefinden sorgen. Es wäre deshalb Aufgabe der Kirchen, den Menschen wieder nahe zu bringen, dass die Religionen dazu da sind, die Endlichkeit des Menschen mit Sinn zu erfüllen.

Die Furche: Welche Chance sehen Sie für die von Ulrich Beck vorgeschlagene Aufwertung der Bürgerarbeit?

Gross: Die angeblich neue Idee von Ulrich Beck lässt sich seit fast einem Jahrhundert in einschlägigen Schriften nachlesen. Schon nach dem Ersten Weltkrieg wurde eine Diskussion über freiwillige und obligatorische Sozial- und Arbeitsdienste geführt, die man heute euphorisch "Bürgerarbeit" nennt. Dass sich jene, deren Arbeitszeit verkürzt wird oder die keine Arbeit haben, so organisieren lassen, halte ich für äußerst zweifelhaft. Aller Erfahrung nach wird neu gewonnene Freizeit darauf verwendet, neue Erwerbstätigkeiten ausfindig zu machen und sich auf diese vorzubereiten. Es erscheint ziemlich blauäugig, darauf zu hoffen, dass neue Freiräume für karitative oder ökologische Aufgaben genutzt werden. Das Engagement auf Bürgerebene muss radikalisiert und in der Tat - hier folge ich Ulrich Beck - neu erfunden werden. Es gilt, personale Systeme zu erfinden, die nicht nur zwischen privatem und öffentlichem Leben vermitteln, sondern in denen Geistes- und Herzensverwandte virtuelle Netzwerke bilden, etwa Wahlverwandtschaften oder Patenschaften, in denen sie sich füreinander verantwortlich fühlen.

Die Furche: Die Altersstruktur der Bevölkerung in Wohlstandsgesellschaften lässt sich nicht mehr in Form einer Pyramide abbilden. Sinkende Geburtenrate und Anstieg der Lebenserwartung schlagen sich in einer Grafik nieder, die eher an einen ausgefransten Pilz erinnert: Unten immer weniger jüngere, oben immer mehr ältere Menschen. Welche Probleme ergeben sich aus der Überalterung der Gesellschaft?

Gross: Die demografische Entwicklung moderner Gesellschaften ist, sieht man von der globalen Entwicklung und dem abnehmenden Anteil der Europäer an der Weltbevölkerung ab, weniger eine Provokation durch absolute Zahlen. Sie ist vielmehr eine Herausforderung, die aus den Verschiebungen in der überkommenen Altersstruktur resultiert. Die ältere Generation wird absolut und relativ in der Gesamt- und in der Erwerbsbevölkerung ein immer größeres Gewicht erhalten.

Die Furche: Was können wir gegen den drohenden Generationenkonflikt tun?

Gross: Wir sollten auf jeden Fall den Stellenwert des Alters und des Alterns in unserer Gesellschaft verbessern. Es ist paradox: Alle wollen alt werden, aber keiner will es sein. Das Alter muss entstigmatisiert werden. Alt werden ist kein Makel, sondern eine Selbstverständlichkeit. Auch die Jungen wollen alt werden. Wenn man die Bevölkerungspyramide, in deren vertrauten Deutungen die ältere Generation bedrohlich auf der jungen lastet, umdreht, erhält man eine verblüffend andere Lesart unserer Gesellschaft. Die älteren Menschen lassen sich als Wurzeln denken, welche die Jungen nähren und tragen. Was die Finanzierung der Altersversicherung betrifft, ist es unumgänglich und selbstverständlich, über eine Erhöhung des Rentenalters nachzudenken. Fernziel wäre die vollständige Öffnung der Lebensarbeitszeit nach oben mit individueller Entscheidungsfreiheit über den Austritt aus dem Erwerbsleben.

Die Furche: Bei einer solchen Aussicht ist der Bewohner der Multioptionsgesellschaft geneigt zu fragen: Wohin soll ich mich wenden? Wohin treibt die Multioptionsgesellschaft?

Gross: Zunächst wird sie sich, im Zeichen der Globalisierung, weltweit nicht nur als Programm, sondern als selbstverständliche Lebensform zu etablieren versuchen. Sie ergreift uns im Inneren und reicht über unsere Welt hinaus. Die Grenzen mögen natürliche, ökologische oder biologische sein. Die Dynamik der Moderne lässt sich dadurch nicht bremsen. Die Multioptionsgesellschaft stößt erst an Grenzen, wenn der Mensch seine eigene Begrenzung anerkennt. Vorher nicht.

Das Gespräch führte Armin Pongs.

Gratwanderer zwischen Soziologie und Philosophie

"Die Herkunft ist kein Schicksal mehr, sondern eröffnet Wahlmöglichkeiten", sagt Peter Gross. 1941 in St. Gallen geboren, studierte er Soziologie, Nationalökonomie und Betriebswirtschaftslehre und promovierte 1969 an der Universität Bern. 1979 übernahm er in Bamberg die Professur für Soziologie und Sozialstruktur im internationalen Vergleich; seit 1989 lehrt Gross in St. Gallen Soziologie und forscht an der Hochschule für Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften in den Bereichen Modernisierung, Management und Theorien der Individualisierung. Mit dem Buch "Die Multioptionsgesellschaft" legte er 1994 eine viel zitierte Deutung der modernen Gesellschaft vor; der Begriff ging - ähnlich wie die "Risikogesellschaft" (Ulrich Beck) und die "Erlebnisgesellschaft" (Gerhard Schulze; Furche-Interview, Nr. 9, 26. 2. 2004) - in den öffentlichen Diskurs ein. Im Zeitalter des unbedingten Steigerungswillens in allen Lebensbereichen, so Gross, sieht sich der Einzelne einer Vielfalt von möglichen Konzepten gegenüber, sein Leben zu gestalten. Die zunehmende Zahl an Optionen schaffe aber nicht nur neue Voraussetzungen, sondern verursache auch Orientierungslosigkeit und Identitätsprobleme. In seinem Buch "Ich-Jagd. Im Unabhängigkeitsjahrhundert" veranschaulichte Peter Gross 1999 den ambivalenten Charakter der schönen neuen Multioptionswelt. Zwar erreiche der moderne Mensch durch technische Errungenschaften eine neue Dimension unabhängiger Lebensgestaltung, fühle sich aber andererseits getrieben, weil er fürchten müsse, den Anschluss zu verpassen.

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