Der Preis für ein längeres Leben

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Wer länger lebt, muss länger arbeiten. Ist doch logisch, oder? Die EU Themenjahr-Devise "Aktives Altern“ wird durchaus unterschiedlich rezipiert. Von sinnerfüllter Einbindung in soziale Kontexte bis zu einer gegen den wohlverdienten Ruhestand gerichteten Unruhestiftung.

Unsere Arbeitsgesellschaft befindet sich im Umbruch. Aktuelle Berufslaufbahnen werden zusehends einem fragmentierten und flexibleren Markt unterworfen. Zu diesem Szenario gehören auch das Ende der "Lebens-Stellung“ oder der Abschied von einem Jahrzehnte im Voraus kalkulierbaren Pensionsantritt. Die Politik will, dass alle länger arbeiten. Aber wie? Und: Wer will das?

Hier scheint der fromme Wunsch Vater des Gedankens zu sein. Jobs für die Generation 60plus bleiben bestenfalls Planspiele, solange bereits 40 jährige qualifizierte Arbeitskräfte als unvermittelbare Langzeitarbeitslose klassifiziert werden. Wo sind die speziell auf ältere Arbeitnehmer abgestimmten Arbeitszeitmodelle und Karrierepfade? Wo sind die Rahmenbedingungen innerhalb derer die Forderung mit Leben zu erfüllen wäre, Menschen länger und zum Wohl aller Beteiligten in den Arbeitsprozess zu integrieren? Solange diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, bleiben auch in Gesetzesform gegossene sozialpolitische Absichten bloße Bekenntnisse ohne realwirtschaftliche Bodenhaftung. Das Einnehmen neuer Haltungen und die entschlossene Nachjustierung tradierter Stereotypen sind vonnöten. Doch wo immer es um Aufbrüche und Umbrüche geht, laufen diese Gefahr, am Beharren der Strukturträger, näherhin der Sozialpartner, zu scheitern.

Wie es kommen musste

In einer immer älter werdenden Gesellschaft schlägt die Normativität des Faktischen notwendigerweise auch buchhalterisch auf die lange ignorierte Unfinanzierbarkeit des Pensionssystems durch. Dessen Kalkulationsgrundlagen stammen aus einer Zeit, in der wir nach der Pensionierung schon bald dem Siechtum anheimfielen und wenig später durch alsbaldiges Verscheiden das Budget entlasteten. Das hat sich grundlegen gewandelt.

Das faktische Pensionsantrittsalter ist gesunken, doch die Lebenserwartung ist gestiegen. Spätestens dann, wenn der Pensionsbezug länger andauert als die Berufslaufbahn, bedarf es nicht einmal mehr der Milchmädchenrechnung um zu erkennen: Das geht sich finanziell nie aus.

Diesem Umstand verdankt sich einerseits die unermessliche Traurigkeit jener, die sich nicht mehr - auf das Gewohnheitsrecht berufend - mit 52 Lenzen oder früher wohlbestallt in die Frühpension verfügen können, es sei denn, sie gehören dem Staatsopernballett an. Andererseits führen unverdrossene Arbeitsbegeisterte auch nach dem gesetzlich vorgesehenen Pensionsantrittsalter ihre Berufslaufbahn mit tausend Freuden weiter und qualifizieren sich nach der Losung: "Die Jungen mögen schneller sein, wir kennen die Abkürzungen.“

Aktiv altern

Themenjahre laufen Gefahr, ihre durchaus sinnvollen Ansätze an den scharfkantigen Rändern des Boulevards abzureiben. Die herbeigewünschte Aktivität Älterer erschöpft sich nicht selten in banalen Anleitungen freizeitgestaltender Äußerlichkeiten. Eine prozesshaft-bewegte Körperlichkeit huldigt zwar markt- und zeitgeistgerecht der Fitness, doch sie zeitigt bisweilen auch Spannkrafterhaltung bei gleichzeitig innerer Vergreisung. Der Arbeitsgesellschaft zuträglicher wäre die Konzentration auf das integrative Momentum aktiver Teilhabe an sozialer Interaktion. Welche Voraussetzungen müssen also gegeben sein, dass Menschen ab 60 gerne arbeiten? Ein Beispiel wäre die Einbindung und Anerkennung persönlicher wie beruflicher Erfahrung. Letztere scheint ihren Wert einzubüßen.

Das Ende der Meritologie

Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche macht vor dem Alter nicht Halt. Der US-amerikanische Soziologe Richard Sennet konstatiert eine zunehmende Geringschätzung früherer Leistungen als logische Folge eines "flexiblen Kapitalismus“. Nur das Heute und Morgen zählt in immer kurzfristiger gestalteten beruflichen Episoden einer sich ständig umstrukturierenden Arbeitswelt, die hauptsächlich junge Mitarbeiter im Blickfeld hat. Eine von Sennet zitierte Unternehmerin lässt trendtypisch aufhorchen. Niemand in ihrem Betrieb dürfe aufgrund vergangener Verdienste sich seiner Stellung sicher sein: "Was früher war, interessiert mich nicht. Es zählt allein, dass Sie heute Ihr Soll erfüllen!“, lautet der tägliche Neustart bei Stunde Null.

Eine Persönlichkeitsausprägung, die bereits gemachte Erfahrung gering schätze, sei einer Haltung gleichzusetzen, "die ständig nach Neuem sucht und dafür selbst noch völlig intakte alte Güter wegwirft“, vermisst Sennet die Wertschätzung des menschlichen Kapitals beruflicher Erfahrung. Der Stolz, Dinge gut hergestellt oder Leistungen zur Zufriedenheit erbracht zu haben, den viele ältere Menschen für sich zu Recht in Anspruch nehmen, wirke fördernd und entlastend zugleich. Frühere Leistungen der Bedeutungslosigkeit anheimzustellen, erzeuge im Menschen ein extrem demotivierendes Gefühl der Nutzlosigkeit, gibt Sennet zu bedenken.

Ein geschichtlicher Rückblick führt die Brisanz dieser Entwicklung in aller Deutlichkeit vor Augen. Als sich nämlich im 19. Jahrhundert die Meritokratie erfolgreich gegen die Aristokratie durchzusetzen vermochte und der Einzelne nicht mehr "von Familie“ zu sein hatte, um etwas zu gelten, sondern mit Fug und Recht auf seine erworbenen Fähigkeiten verweisen und dadurch Anerkennung erhalten konnte, war eine bis dahin unbekannte Quelle zur Erlangung von gesellschaftlicher Partizipation erschlossen.

Verunsicherung und Angst

Sennet postuliert ein Entschwinden der von den "Aposteln des neuen Kapitalismus“ versprochenen Freiheit, deren drei konstitutive Säulen Arbeit, Qualifikation und Konsum ihren Bestand garantieren sollten. Anstelle von Freiheit kam Instabilität.

"Weh, wo ist Bestand in dieser Welt?“ fragte sich am Ende des 15. Jahrhunderts der Dichter Thomas Hoccleve im Fürstenspiegel The Regiment of Princes. Es scheint dies nicht nur eine Klage zu sein, die bereits Homer und einige Protagonisten der biblischen Bücher äußerten, sondern eine zeitlose, dem Menschen gleichsam inhärente existenzielle Frage. Wo Bestand vermisst wird, entstehen Ungewissheit und Angst; weniger vor einer drohenden historischen Katastrophe, vielmehr Angst, die mit den alltäglichen Praktiken eines vitalen Kapitalismus verwoben ist, der für ältere Menschen wenig Karrierechancen bereitstellt.

Mit dem Älterwerden in der Arbeitswelt steigt auch der Grad der Verunsicherung angesichts des ökonomischen Wandels. Davon Betroffene machen die Politik dafür verantwortlich. Zu Recht, ist Sennet überzeugt. Allerdings: Eine altersgerechte Arbeitswelt lässt sich nicht auf dem Reißbrett sondern nur dialogisch und auf gleicher Augenhöhe mit den Betroffenen entwickeln.

Der Börsen- und Devisenhändler George Soros fasst den "Kursverfall“ intrinsischer Werte in einen Satz: "Im Umgang der Menschen miteinander sind heute Transaktionen an die Stelle von Beziehungen getreten.“

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