Der Ruf des Sarrazin

Werbung
Werbung
Werbung

Mit „Deutschland schafft sich ab“ ist dem SPD-Politiker und Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin die erwartete und kalkulierte Provokation gelungen. Für die eigentlichen Probleme interessiert sich freilich kaum jemand.

Wieder einmal ein Buch, das medial schon „abgefrühstückt“ wurde, bevor oder kaum dass es erschienen ist (in Österreich ist es bislang noch immer nicht ausgeliefert). Aber das ist Teil unserer Erregungsdemokratie. Sie zwingt zur Überzeichung, Polemik und Provokation. Sie ruft Leute wie Thilo Sarrazin auf den Plan, die ihrerseits virtuos auf diesem Klavier spielen und das ritualisierte Procedere kühl befeuern. Darüber zu klagen hat wenig Sinn. Auch Bemerkungen wie jene von Frau Merkel, Sarrazins Buch sei „überhaupt nicht hilfreich“, sind wenig hilfreich. Dahinter steht die Behauptung, Sarrazin und Co. verhinderten eine seriöse Auseinandersetzung mit der Thematik. Aber wer hat eigentlich all die Moderaten, die Bedenkenträger, die Wohlmeinenden in Politik und Medien daran gehindert, jene seit Langem bekannten Probleme, die Sarrazin nun beschreibt, seriös zu diskutieren und, vor allem, anzupacken?

„Ghostwriter der Gesellschaft“

„Man wünschte sich, nur ein Bruchteil dieser gewaltigen Erregungsenergie flösse in den Versuch, die Probleme eines alternden, in Parallelgesellschaften zerfallenden Einwanderungslandes zu lösen, die Sarrazin auf den Punkt brachte wie jedenfalls kein Politiker vor ihm“, schreibt FAZ-Herausgeber Berthold Kohler. Dem ist wenig hinzuzufügen. Mit Sicherheit aber das, was Kohlers Herausgeberkollege Frank Schirrmacher in der Sonntags-FAZ (FAS) festgehalten hat: Sarrazin sei der „Ghostwriter einer verängstigten Gesellschaft“, heißt es in dem vielleicht luzidesten Beitrag, der zu dieser Causa bisher erschienen ist. Denn das wissen auch Sarrazins heftigste Kritiker: dass er einer Mehrheit aus der Seele spricht, dass er die Befindlichkeit vieler Menschen nicht nur in Deutschland auf den Punkt bringt. Vor allem mit dem – nicht von ungefähr am meisten zitierten – Satz: „Ich möchte nicht, dass das Land meiner Enkel und Urenkel zu großen Teilen muslimisch ist, dass dort über weite Strecken türkisch und arabisch gesprochen wird, die Frauen ein Kopftuch tragen und der Tagesrhythmus vom Ruf der Muezzine bestimmt wird.“ Dass diese Sorge nicht nur medial genährt und populistisch geschürt ist – das ohne Zweifel –, sondern auch einen realen Grund hat, wird inzwischen auch von liberalen Kommentatoren nicht mehr bestritten (siehe auch „Presse international“, Seite 10).

Fatal wird diese Sorge erst dadurch, dass ihr aufseiten der Politik und Bürokratie eine „Mischung aus Lethargie, politischer Korrektheit und Furcht“ gegenübersteht, wie es in der Süddeutschen Zeitung unter Bezugnahme auf die kürzlich aus dem Leben geschiedene deutsche Jugendrichterin Kirsten Heisig heißt. Solcherart entsteht eine gefährliche Eigendynamik: Die Menschen trauen den Politikern immer weniger zu, weswegen diese jenen, ihren Wählerinnen und Wählern, immer weniger zumuten, was das allgemeine Misstrauen weiter nährt …

Das bildet das Substrat jener „verängstigten Gesellschaft“, von der Schirrmacher spricht. Im Kern aber geht es um einen Mangel an Selbstgewissheit, um den Verlust von Fundamenten, Maßstäben und Orientierung.

Neubesinnung auf Grundlagen

Was früher ungefragt und unhinterfragt von Kirchen, weltanschaulichen Gruppierungen und politischen Parteien zur Verfügung gestellt wurde, gilt heute nicht mehr und kann auch nicht mehr in dieser Weise gelten. Der schwierigen Aufgabe Identität und eigene Überzeugung nicht trotz sondern in einer pluralen Welt zu definieren und zu leben, wollen oder können sich indes viele nicht unterwinden. Wer es aber versucht, dem weht bisweilen recht heftig der Wind des Zeitgeistes entgegen, der nur als liberal gelten lässt, wenn alles gleich gültig ist.

So gesehen lässt sich Sarrazin tatsächlich als gesellschaftliches Symptom begreifen. Die Erregungs- und Empörungsrhetorik, die diese und ähnliche Debatten prägt, kann die Auseinandersetzung mit den aufgezeigten Problemen ebenso wenig ersetzen wie, schwieriger noch, eine Neubesinnung auf die Grundlagen unseres Gemeinwesens.

* rudolf.mitloehner@furche.at

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung