Der Segen des Christentums

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Sieben Geburtsfehler des Christentums konstatierte Herbert Schnädelbach in der "Zeit". Unter dem Titel "Fluch des Christentums" kommt der Berliner Philosoph zum Schluss, es wäre segensreich, würde sich das Christentum selbst aufgeben. Furche 23 dokumentierte den Artikel Schnädelbachs und brachte Erwiderungen des Wiener Theologen Bertram Stubenrauch sowie des Salzburger Religionskritikers Edgar Morscher. Im Folgenden rechnet ein prominenter Intellektueller Österreichs mit Schnädelbachs Abrechnung ab.

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Sieben Geburtsfehler des Christentums konstatierte Herbert Schnädelbach in der "Zeit". Unter dem Titel "Fluch des Christentums" kommt der Berliner Philosoph zum Schluss, es wäre segensreich, würde sich das Christentum selbst aufgeben. Furche 23 dokumentierte den Artikel Schnädelbachs und brachte Erwiderungen des Wiener Theologen Bertram Stubenrauch sowie des Salzburger Religionskritikers Edgar Morscher. Im Folgenden rechnet ein prominenter Intellektueller Österreichs mit Schnädelbachs Abrechnung ab.

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Die im Geist und Stil Karl-Heinz Deschners vorgetragene Anklage und Kriminalisierung des Christentums von Herbert Schnädelbach leidet schon vom Ansatz her an der Selbstverständlichkeit, mit der der Autor die Wahrheitsfrage ausklammert und nicht einmal die Möglichkeit in Betracht zieht, dass das Christentum seine Verbreitung als größte Weltreligion nicht in erster Linie der angewendeten Gewalt, sondern der Überzeugungskraft seiner Zentralperson und dessen Bekennern, die die Botschaft Christi mit ihrem Leben und Sterben beglaubigt haben, verdankt.

Die Anziehungskraft der christlichen Botschaft beruht, wie etwa C. G. Jung erkannte, darauf, dass es die in der Menschheit seit jeher schlummernde Sehnsucht nach der Verbindung des Göttlichen und das Menschlichen in einer Person befriedigt und schon aus diesem Grunde die dem Menschen zuträglichste und adäquateste Erscheinungsform der Religion ist, die sich nicht als bloßes Menschenwerk, sondern als von oben kommende Offenbarung an den Menschen darstellt.

Doch selbst wenn man die Wahrheitsfrage die Schnädelbach von vornherein negativ beantwortet, ausklammert, geht er auch bei der historischen Bilanz des Christentums in einer Weise vor, die nicht nur die Gefühle religiöser Menschen verletzt, sondern auch mit historischen Tatsachen einseitig, ja sie vergewaltigend umgeht.

Christliche Gleichheit Wenn Schnädelbach den Ursprung der Menschenrechte nicht im Christentum finden will, sondern sie aus anderen Quellen und antichristlichen Bewegungen herleitet, geht er an den historischen Tatsachen vorbei. Lässt es sich ernstlich leugnen, dass die französischen, englischen, amerikanischen Dokumente und Willenskundgebungen, die zur Entfaltung der Menschenrechtsdoktrin geführt haben, sich dem christlichen Grundgedanken von der Gottebenbildlichkeit und Gleichheit aller Menschen verdanken?

Auch wenn historische Bewegungen die Kodifikation und Durchsetzung der Menschenrechte vielfach gegen das etablierte Christentum und die Kirche erkämpfen mussten, ändert dies nichts daran, dass auch Gegenbewegungen wie Liberalismus und Sozialismus von der christlichen Substanz und Vorlage gezehrt haben und ohne diese nicht zustande gekommen wären. Und sind Herrn Schnädelbach ähnliche Anregungen und Impulse, wie sie weltweit von der christlichen Botschaft ausgingen, aus anderen Kulturkreisen und Weltreligionen bekannt? Die Idee der Gleichheit aller Menschen sub specie aeternitatis, wie sie vom Christentum verkündet wurden und werden, stellt ein Dauergeschenk des Christentums an die Menschheit dar, das alle Formen christlicher Deformation, wie die Inquisition, bei weitem aufwiegt.

In diesem Zusammenhang sei Karl Renner zitiert, der nicht nur ein bedeutender Politiker, sondern auch ein Sozialphilosoph von Rang war. Im 1930 erschienen Büchlein "Der Mensch in der Wirtschaft und der Sozialismus" schwang sich der im übrigen gar nicht christlich gestimmte Autor zu einer Feststellung auf, die der historischen Wahrheit die Ehre gab, die Herr Schnädelbach nicht gelten lassen will: "Dieses Verstehen des Anderen ist ein kategorisches Erfordernis der modernen Kultur. Im Grunde genommen ist das Verstehen des Anderen schon in die Welt gekommen durch das Christentum, durch jene Leute, welche bei der unerhörtesten Verschiedenheit der Stände, bei dem unerhörtesten Abstand des Machtkreises einzelner Individuen in der antiken Welt, bei diesen ungeheuren Gegensätzen des Zeitalters der Sklaverei die gleiche Gotteskindschaft aller Menschen, die also eine revolutionäre Gleicheitsvorstellung in die Menschen gepflanzt hat, durch das Christentum, das in der Bergpredigt den Satz geprägt hat: Selig sind die Mühseligen und Beladenen. Das Christentum, das diesen Satz aufgestellt hat, als ein Zeichen, dass, welche Gegensätze die Gesellschaft im einzelnen auch immer zerreißen mögen, die Gemeinsamkeit des Menschlichen alles andere überwindet."

Mission muss(te) sein Auch die Missionstätigkeit des Christentums darf nicht nur als eine Geschichte des Zwanges und des Kolonialismus gesehen werden, sondern als ein Prozess der kulturellen Verbreitung und als ein Export von Ideen, die auch in den Ländern, in denen sie importiert wurden, positive Wurzeln schlugen und nicht bloß faule Früchte trugen. Der in die Tat umgesetzte Missionsauftrag des Christentums führte in Verbindung mit dem faustischen Drang der abendländischen Kultur auch zu einer weltweiten Verallgemeinerung auch des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts. Ja, die christliche Botschaft der Gleichheit aller Menschen und der Missionierung aller Länder war eine nicht unwesentliche Voraussetzung dessen, was wir heute als Weltkultur begreifen.

Ebenso einseitig wie die Bewertung der Mission ist auch die des christlichen Antijudaismus. Wenn es auch nicht zu leugnen ist, dass der Holocaust ohne den christlichen Antijudaismus nicht so leicht möglich gewesen wäre, ist doch darauf zu bestehen, dass er, so sehr man ihn heute auch ablehnen muss, doch von ganz anderer Qualität und Gesinnung war als der rassistische Antisemitismus. Und wenn man den christlichen Antijudaismus für alle von ihm nicht vorhergesehenen und gewollten Fernwirkungen verantwortlich macht, so sollte man auch nicht vergessen, was die Kirche gerade durch die Mission dazu beigetragen hat, den Ruhm und den Stellenwert des auserwählten Volkes in die fernsten Winkel der Erde zu tragen.

Die katholische Kirche hat sich immer gegen die Abtrennung des Christentums vom Alten Testament und die Verselbständigung des Neuen auf Kosten des Alten ausgesprochen und den römischen Gnostiker im zweiten Jahrhundert, Markion, der für eine solche Ablösung war, bekämpft und zum Häretiker gestempelt. Und trotz allem Antijudaismus ist das Bewusstsein der letzten Zusammengehörigkeit von Christentum und Judentum nie ganz verloren gegangen. Es hat immer wieder Pogrome, die sich auf christliche Motive stützten, gegeben, aber auch immer wieder von der kirchlichen Autorität ausgehende Eindämmungen solcher Übergriffe. Jedenfalls hätten die Juden das Mittelalter nicht überlebt,wenn das Gedankengut, das später zur Vernichtung der Juden führen sollte, damals schon vorhanden gewesen wäre. Die Juden waren in der christlichen Gesellschaft, von allerdings gravierenden Einzelfällen wie der Vertreibung der Juden aus Spanien abgesehen, Zielscheiben der Bekehrung und der Beargwöhnung, Gefühle, die aber nie so weit gingen, ihnen die Qualität des Menschseins abzusprechen, wie dies im Dritten Reich der Fall war.

Erbsünde ist notwendig Nicht folgen kann man Schnädelbach auch, wenn er die christliche Erbsündenlehre als Fluch für und über die Menschheit ansieht. Auch der vom Marxismus herkommende, aber durch die Erfahrungen mit dem Totalitarismus geläuterte polnische Philosoph Leszek Kolakowski, wird nicht müde, die Kirche geradezu zu beschwören, sich nicht von der Erbsündenlehre abbringen zu lassen. Er erblickt in dieser Lehre eine Verwahrung gegen alle Versuche, mit Hilfe eines von der Erbsünde gereinigten guten Menschen den Himmel auf Erden zu errichten und dabei die Hölle zu entfesseln.

Die Erbsündenlehre ist eine notwendige Erinnerung und Mahnung an die Grenzen des Menschen, auf den ein Schatten fällt. Alle Versuche, die Menschheit ohne Schatten zu sehen und nur das Licht gelten zu lassen, führen in die Irre und gelingen ebensowenig wie "Der Mann, der seinen Schatten verkaufen wollte" von Adelbert von Chamisso.

Auch die Rechtfertigungslehre, an der Herr Schnädelbach so heftig Kritik übt, ist in diesem Zusammenhang zu sehen und als Verwahrung gegen den Versuch des Menschen, sich selbst zu rechtfertigen und ohne den Segen von oben zu wirken, zu verstehen und zu würdigen. Auch diese Lehre ist keine überflüssige Belastung des Menschen, sondern eine segensreiche Befreiung von einer Überforderung des Menschen, die nur in Enttäuschung und Verzweiflung enden kann. Dem neutestamentarischen Bild von Sünde und Rechtfertigung entspricht im Alten das des Turmbaus zu Babel: Wo immer der Mensch versucht, ohne Segen des Himmels in den Himmel vorzudringen, verfällt er der Strafe, die für die Hybris, die auf Gott verzichten zu können meint, vorgesehen ist.

Fußnoten zu Plato Auch die Verteufelung des Platonismus, die Herr Schnädelbach vornimmt, ist ein typisches Beispiel für die Einseitigkeit und Voreingenommenheit seiner Vorgangsweise. Es sei daran erinnert, dass der Philosoph Bertrand Russell - kein Platoniker und schon gar kein Christ - einmal gemeint hat, dass die ganze abendländische Philosophie im Grunde nur Fußnoten zu Plato und seinen Dialogen sei. Man kann Platos Staatslehre kritisieren und ihn als Feind der offenen Gesellschaft denunzieren, wie dies Karl Popper getan hat. Aber man darf auch nicht vergessen, dass derselbe Plato, der Staatsutopien nachhing, in seinem Höhlengleichnis eine unübertroffene Darstellung des metaphysischen Denkens und Schauens geliefert und der Menschheit als Erbe hinterlassen hat, von dem wir heute noch zehren. In dieser Schau erscheinen jene, die wie Herr Schnädelbach, die Welt der Schatten in der wir leben, für die einzige und letzte halten, und die metaphysische Lichtquelle, die diese Schatten wirft, nicht gelten lassen wollen, als Toren und Gefangene einer Situation, die man nur durch Hinwendung zur ewigen Lichtquelle überschreiten kann. Gemessen an dieser bleibenden Grundhaltung und -erkenntnis, die Plato mit seiner Philosophie vermittelt, sind die von Schnädelbach beanstandeten leibfeindlichen Haltungen, die auf Plato zurückgehen, Deformationen minderer Qualität, die das Verdienst in der Hauptsache nicht aufheben, nicht einmal ernstlich schmälern können. Der Dualismus Platos bleibt jedenfalls prinzipiell gültig, auch wenn man gewisse Übertreibungen asketischer Natur mit Recht kritisiert.

Wenn man die dem Menschen zugängliche Wirklichkeit auf die sinnlich wahrnehmbare und empirisch erfassbare reduziert, erübrigt sich nicht nur jeder Dualismus, auch der aufklärerische Kants, der den Menschen als "Bürger zweier Welten" deutet. Dann erübrigt sich auch jeder Ausblick auf eine Welt jenseits von Raum und Zeit, und auf ein Leben nach dem Tode. Dann fallen nicht nur die Verheißungen der christlichen Botschaft weg, auch das Kantsche Postulat der Unsterblichkeit wird wie das Gottes und der Freiheit geopfert.

Wenn Schnädelbach meint, Europa von einer Last, ja sogar von einem Fluch zu befreien, wenn man das Christentum als Fremdkörper und Relikt behandelt, unterliegt er einem verhängnisvollen Irrtum. Auch gesellschaftlicher Fortschritt braucht nämlich absolute Wertmaßstäbe, die das Christentum in konzentrierter Form liefert, weshalb der jetzige Papst es auch immer wieder als Herz und Seele Europas anspricht und die Menschen an die Wohltat ihres Taufversprechens erinnert, das nach wie vor, ja mehr denn je edelste Schätze aus der christlichen Tradition verspricht, wenn man es ernst nimmt und in die moderne Gesellschaft trägt.

Kronzeuge Max Weber Max Weber - der über den Verdacht, dem Christentum gegenüber positiv voreingenommen zu sein, erhaben ist, da er sich selbst als "religiös unmusikalisch" bezeichnete, also in seinen Aussagen nur auf die historische Wirkung des Christentums abstellte - schrieb in einem Brief an seinen Bruder, den Kultursoziologen Alfred Weber, der ihn lange überleben sollte, wie auch das Christentum alle Totsagungen überleben wird: "Die christliche Religion ist eine der Hauptgrundlagen, auf denen alles Große beruht, was in dieser Zeit geschaffen ist; die Staaten, welche entstanden, alle großen Taten, welche dieselben geleistet, die großen Gesetze und Ordnungen, welche sie aufgezeichnet haben, ja auch die Wissenschaft und alle großen Gedanken des Menschengeschlechtes haben sich hauptsächlich unter dem Einfluss des Christentums entwickelt. Die Gedanken und die Herzen der Menschen sind nie, seit die Welt denken kann, von etwas so erfüllt und bewegt worden wie von den Ideen des christlichen Glaubens und der christlichen Menschenliebe ... Das Christentum ist das gemeinsame Band, welches uns mit allen Völkern und Menschen, die auf gleich hoher Stufe stehen wie wir, verbindet, denn selbst diejenigen Menschen unter uns, welche sich selbst nicht Christen nennen oder behaupten, mit dem Christentum selbst nichts zu schaffen haben zu wollen, haben sich die Grundgedanken des Christentums angeeignet und handeln unwillkürlich nach seinen Lehren".

Der Autor ist Professor für Gesellschaftsphilosophie an der Universität Wien.

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