Der steinige Weg in ein friedliches Leben

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Durch das Stiegenhaus des ehemaligen ÖBB-Lehrlingsheimes in Wien-Meidling hallt dezente orientalische Musik, vor dem Eingang sind buntgestreifte Strandsessel um runde Tische arrangiert. In den Fensterscheiben hängen bunte Papierhände. Vor einem Jahr wurde das Gebäude vom Samariterbund Wien zum "Haus Sidra" umfunktioniert. "Sidra" bedeutet in der Sprache Tigrinya, die in Eritrea gesprochen wird, "Familie" - und genau dieses Gefühl sollen Burschen zwischen 14 und 18 Jahren, die ohne ihre Familie aus ihrer Heimat flüchten mussten, in diesem neuen Heim erfahren. Nach der offiziellen Eröffnung der Unterkunft Ende Juli sind hier mittlerweile 30 von österreichweit 900 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen untergebracht. Vom Terror der Taliban zur Flucht gezwungen, sind gut zwei Drittel der Bewohner afghanische Jugendliche. Aber auch Burschen aus Syrien, Algerien, Somalia, Eritrea, Pakistan und Bangladesch machten sich in Bussen, Schlepperbooten und Lastwägen auf eine monatelange und gefährliche "Reise" nach Europa und landeten im "Haus Sidra".

Traumatisiert und ohne Familie

Der 15-jährige Shahier und der 17-jährige Abdullah sind zwei der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, die im Haus Sidra untergebracht sind und ihre Heimat Afghanistan verlassen mussten. Mit ihren Familien haben sie Kontakt, etwa einmal im Monat wird telefoniert. Ob sie jemals wieder vereint sein werden, weiß keiner. Fernab von Familie und Freunden neue Beziehungen aufzubauen, fällt den alleine Geflohenen aufgrund des Erlebten oft schwer: "Sie sind sehr belastet und wissen nicht, wie ihre Zukunft ausschauen wird. Eine Flucht nach Europa ist außerdem nicht ungefährlich - die Jugendlichen sind dabei mit Situationen konfrontiert, die ihnen in ihrem Alter gar nicht zumutbar sind", erklärt Hausleiter Christian Ellensohn. Vor allem nachts kommen die Erinnerungen daran immer wieder an die Oberfläche, Medienberichte über die Heimat wühlen die Burschen zusätzlich auf. Um sie in diesen Situationen aufzufangen, sind rund um die Uhr psychosoziale und sozialpädagogische Betreuer im Haus.

Auch ein geregelter Tagesablauf ist essenziell für den innerlichen Halt der Geflohenen. So besuchen die sieben schulpflichtigen Bewohner des Hauses vormittags die Schule, alle anderen nehmen an Deutschkursen teil. Zu Mittag wird gemeinsam mit den Betreuern gekocht, nachmittags steht die Freizeitgestaltung, unter anderem mit Fußball und Taekwondo am Plan, über alte Fahrräder und Bücherspenden zur Erweiterung des Angebots freue man sich laut Ellensohn besonders. Dienstag-und Donnerstagnachmittag kommen Lernbetreuer ins Haus, die mit den Jugendlichen für die Schule üben und mit ihnen gemeinsam an ihren Deutschkenntnissen feilen.

Zu wenige Deutscheinheiten

Sich auf Deutsch zu unterhalten ist für Shahier und Abdullah kein Problem mehr. "Anfangs war es schwer, aber was soll ich machen? Ich will ja schließlich hier bleiben", meint Abdullah, der seit acht Monaten in Österreich ist. 200 Stunden Deutschkurs werden Minderjährigen im Rahmen der Grundversorgung finanziert - nach rund acht Monaten sind diese Mittel im Schnitt verbraucht.

Im Haus Sidra wird das bereits im Herbst bei den ersten Jugendlichen der Fall sein. Ein Umstand, der dem Leiter des Hauses große Sorgen bereitet: "Die Frage ist, wie es dann weitergeht. Wir selbst haben die Ressourcen auch nicht und es ist auch keine Lösung, nur auf ehrenamtliche Mitarbeiter zu setzen", erklärt er. Weil die Burschen momentan in Länderbetreuung stehen, liegt die Entscheidung, ob weitere Kurse bezahlt werden, laut Innenministeriumssprecher Karl-Heinz Grundböck beim Land Wien. Werden keine weiteren Mittel zur Verfügung gestellt, wird der ohnehin steinige Weg in ein selbstständiges Leben in Österreich aber weiter erschwert.

Eine Ausbildung zu beginnen ist zwar grundsätzlich möglich, in der Praxis aber schwierig: "Für eine Lehre muss die Bereitschaft der Firma da sein -aber wenn die Deutschkenntnisse nicht ausreichend sind, meinen diese verständlicherweise, dass es schwer möglich ist, ihnen etwas beizubringen", weiß Katharina Glawischnig von der Arbeitsgruppe "Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge". Essenziell für die Integration und die eigene Lebensgestaltung in Österreich sei daher ein breiteres Angebot an Deutschkursen.

Sind die Kursförderungen erst einmal verbraucht, setzt sich die Problemspirale auch in den österreichweit 40 Betreuungseinrichtungen fort: "In diesem Fall müssen wir uns für sie andere Angebote überlegen -was sollen sie denn sonst bis zu ihrem 18. Lebensjahr machen?", fragt sich Ellensohn. Der Großteil der finanziellen Mittel, die im Rahmen der Grundversorgung für Einrichtungen wie das "Haus Sidra" zur Verfügung stehen, fließe in die Betreuung der Jugendlichen sowie die Miete der Unterkünfte. Mit gerade einmal 10 Euro Freizeitgeld pro Person im Monat ist es ebenso wenig möglich, ein Alternativprogramm für den "abgeschlossenen" Deutschunterricht zu bezahlen. Laut Glawischnig liegt hier das fundamentale Problem, auf das Betreuer unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge hierzulande stoßen: Im Vergleich zu österreichischen Jugendlichen, die vom Jugendamt betreut werden, erhalten sie viel geringere finanzielle Mittel. "Österreicher erhalten einen Tagsatz von 150 Euro, Flüchtlinge bekommen 77 Euro. Aber Kind ist Kind, egal, wo es herkommt."

Herzenswunsch Asyl

Abgesehen von den finanziellen Schwierigkeiten machen Shahier und Abdullah momentan andere Dinge zu schaffen: Zwar haben beide bereits nach ihrer Ankunft im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen einen Asylantrag gestellt, ein "Interview", in dem geprüft wird, ob ihre Flucht legitim war, hatte aber bisher kein einziger afghanischer Flüchtling des Hauses Sidra. "Ich brauche das Gespräch sehr dringend. In vier Monaten werde ich 18 Jahre alt und dann muss ich in ein anderes Heim umziehen", erklärt Abdullah. Er träumt von einer Zukunft als Richter bei der UNO, Sahier denkt momentan über eine Ausbildung zum Bürokaufmann nach. Bis dahin haben die beiden aber nur einen Wunsch: "Alles, was wir möchten", so Sahier, "ist ein positiver Asylbescheid."

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