Der Umgang mit dem Rotstift

Werbung
Werbung
Werbung

Fehlerkultur oder Fehlermanagement sind gerne zitierte Strategien. Doch in den Alltag von Schule und Unternehmen hält das Motto „Lernchance durch Fehler“ nur langsam Einzug.

Nicht immer enden Fehler so tragisch: Ein 63-jähriger Grazer Jurist wollte in einer Privatklinik einen kleinen schönheitschirurgischen Eingriff durchführen lassen. Nach einem Sturz hatte er eine unschöne Delle am Kopf. Doch bei dem Eingriff ging einiges schief: Nach einer akut auftretenden Schwellung im Kehlkopfbereich nach Einleitung der Narkose wurde zu spät ein Luftröhrenschnitt gesetzt. Der Patient überlebte zwar, aber mit schweren bleibenden Schäden. Ein Prozess folgte.

Diesen Fall eines ärztlichen „Kunstfehlers“ schildert der Wissenschaftsjournalist Kurt Langbein in seinem Buch über Fehlentwicklungen in unserem Gesundheitssystem: „Verschlusssache Medizin. Wie sie uns krank macht, wer davon profitiert und wie Sie das System überleben“ (Ecowin 2009). Doch wie Langbein aufzeigt: „Das Problem der Behandlungsfehler und des mangelnden Fehlermanagements bleibt bei Weitem nicht auf Privatkliniken beschränkt. Die antiquierten Hierarchien sind das Haupthindernis für ein zeitgemäßes Qualitäts- und Risikomanagement im Medizinbetrieb.“ Meldesysteme für medizinische Fehler oder Beinahe-Fehler, Checklisten oder Transparenz von Ergebnissen medizinischer Leistungen finden laut Langbeins Recherchen nur allzu zaghaft Eingang in Österreichs medizinische Betriebe.

Nicht überall sind Fehler, zum Glück, so folgenreich wie in der Medizin oder etwa im Flugverkehr. Doch umso wichtiger sind gerade in diesen Sektoren die in den letzten Jahren boomenden Schlagwörter wie Fehlerkultur oder Fehlermanagement – kurz: der neue Umgang mit Fehlern. Wetterte der Wirtschaftswissenschafter Fredmund Malik noch medial: „Für alle Berufe einer modernen Gesellschaft gilt, dass Fehler nicht vorkommen dürfen“, so setzte sich zunehmend in Schule und Unternehmen das Motto durch: Schluss mit der Perfektion. Sie hemmt Kreativität und Forschungsdrang, sie schafft Angst, und nichts lähmt mehr den Eifer als die Angst vor Fehlern, Bloßstellung und Scheitern. Es sollte um einen offenen Umgang, Verantwortung und Strategien zur Vermeidung gewichtiger Fehler gehen: um Fehlerkompetenz.

Vor allem in unseren Klassenzimmern wird versucht, eine neue Fehlerkultur zu entwickeln – ein Paradigmenwechsel. Im Buch „Nur wer Fehler macht, kommt weiter“ (siehe unten) wird auf ein Zitat von Albert Einstein verwiesen: „Wer noch nie einen Fehler gemacht hat, hat sich noch nie an etwas Neuem probiert.“ Doch bei all der Abkehr der alten Schule bleiben Fehler etwas Brisantes, betont die Musikpädagogin mit Spezialgebiet Lernen aus Fehlern, Maria Spychiger, im FURCHE-Gespräch: „Fehler sind immer noch potenziell Selbstwert schädigend.“ Man sollte Fehler nicht verklären, so wichtig die Enttabuisierung von Fehlern und Offenheit ihnen gegenüber auch sei.

Wann es klappen muss

Wenn auch in so mancher moderneren Unterrichtsstunde Fehler von Schülern geradezu erwünscht werden, um den Forscherdrang nicht zu bremsen, so gibt es nach Spychiger immer noch den Unterschied zwischen Übungs- und Performancephase. Kurz: Bei Schularbeiten muss es dann aber klappen. Und noch viel mehr beim eventuellen Nachzipf.

Gerade in der Frage des Sitzenbleibens und dessen Sinn (siehe Artikel links) scheiden sich die Geister: Als „zweite Chance“, um an eigenen Fehlern zu wachsen, wird das Repetieren meist „verkauft“. Dieser These widersprechen jedoch Experten und Studien: Martin Retzl vom Institut für Bildungswissenschaft der Uni Wien gibt aber zu bedenken, dass das Sitzenbleiben im derzeitgen System auch als Chance anzusehen ist: „Eine wesentliche gesellschaftliche Funktion von Schule stellt die Selektion beziehungsweise Allokation dar. Schulen müssen nach Leistung selektieren. Aus dieser Perspektive ist das Sitzenbleiben eine Möglichkeit, nicht vorzeitig gesellschaftliche Positionen zugewiesen zu bekommen, die einem vielleicht doch nicht entsprechen.“ Würde das starre Klassenjahrgangsprinzip verändert, wären „geeignetere Formen“ denkbar.

Sitzenbleiben als Chance? Eine sehr umstrittene Sicht angesichts der schulischen Realität in Österreich. Denn nach Pisa und anderen Bildungsstudien selektiert kaum ein Land so stark nach sozialen Kriterien und nicht nach Talenten wie Österreich.

Nüchterne Zahlen ziehen den Sinn des Sitzenbleibens ebenso in Zweifel: Laut Statistik Austria sind viele Schüler auch beim Wiederholen einer Klasse nicht erfolgreich. Besonders schlechte Chancen haben Sitzenbleiber an der AHS-Oberstufe, an berufsbildenden mittleren und höheren Schulen. Von jenen, die in dieser Schulform sitzenbleiben, schaffen an der AHS-Oberstufe und an der BMS jeweils 60 Prozent die wiederholte Klasse erfolgreich, an den BHS schaffen 64 Prozent die Klasse im zweiten Anlauf. Deutlich geringere Erfolgsaussichten haben Kinder mit „nicht-deutscher“ Muttersprache: Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ein Schuljahr nicht erfolgreich beenden, ist mehr als doppelt so hoch wie bei ihren Klassenkameraden mit Muttersprache Deutsch. Viele brechen demnach ihre Schullaufbahn gleich ab.

Nicht nur Kinder mit Migrationshintergrund sind benachteiligt, Bernadette Hörmann vom Institut für Bildungswissenschaft der Uni Wien spannt den Bogen weiter: „Eindeutige Verlierer des Mechanismus ‚Sitzenbleiben‘ sind jene Kinder, die bereits aus benachteiligten Milieus stammen. Unser System erfordert ein außerschulisches Umfeld, das sich aktiv am Bildungsprozess beteiligt, sei es in finanzieller Hinsicht für Nachhilfe oder etwa in motivierender Hinsicht durch die Eltern. Das ist jedoch nicht in allen Familien möglich. Die Schüler werden auf diese Weise bei negativen Leistungen schnell zu Schulabbrechern.“ Manche Experten fordern daher, dass Schüler anstelle des Sitzenbleibens besser besonders gefördert werden sollen, um in schwächeren Fächern aufzuholen. Und manche fügen gleich die kritische Frage hinzu: Hat irgendein Pädagoge jemals die Talente dieser Kinder ins Scheinwerferlicht gerückt?

Fehler im System

Zu oft steckt auch Schulangst hinter schlechten Noten. Dass Angst das Lernen blockiert, haben schon viele Schüler und Schülerinnen auch vor Manfred Spitzers wissenschaftlichen Erklärungen bitter erfahren müssen. Der Psychiater und Neurodidaktiker schreibt in seinem Buch „Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens (Springer Verlag 2007): „Große Angst bewirkt zwar rasches Lernen, ist jedoch kognitiven Prozessen insgesamt nicht förderlich und verhindert zudem genau das, was beim Lernen erreicht werden soll: Es geht nicht um ein einzelnes Faktum, sondern um die Verknüpfung des neu zu Lernenden mit bereits bekannten Inhalten und um die Anwendung des Gelernten auf viele Situationen und Beispiele.“

Nicht erst die Neurowissenschaft gab den Forderungen nach einem neuen Umgang mit Fehlern in Schule oder Unternehmen Auftrieb. Doch wie die Wiener Unternehmensberaterin Elke Schüttelkopf im Buch „Fehler, Lernen, Unternehmen. Wie Sie die Fehlerkultur und Lernreife Ihrer Organisation wahrnehmen und gestalten (Peter Lang Verlag 2008) schreibt: Fehlermanagement liege zwar im Trend, auch seien „ausgefeilte Methoden des Qualitäts- und Risikomanagements“ mancherorts implementiert worden, man habe aber oft eines übersehen: eine neue Fehlerkultur im Unternehmen zu schaffen. Zu oft sei die „alte“ gar nicht bewusst. Doch: „Die Fehlerkultur ist vorhanden, auch wenn man sie nicht kennt. Sie wirkt, auch wenn man es nicht weiß.“ Der erste Weg also, eine erfolgreiche Fehlerkultur zu schaffen, ist demnach, sich der vorhandenen Fehlerkultur und deren Grundlagen von Normen und Werten bewusst zu werden.

Zudem: Jedes Unternehmen müsse seine eigene Fehlerkultur schaffen, sagt Maria Spychiger, die zurzeit an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main lehrt. Die Musikpädagogin hat trotz Definitionsschwierigkeiten von Begriffen wie Fehler, Irrtum, Täuschung usw. eine Klassifizierung entwickelt.

Im Zentrum stehen die Konsequenzen, die Fehler haben, und die potenzielle Reversibilität (also ob ein fehlerhafter Vorgang rückgängig gemacht werden kann): Es gibt Fehler mit großen Konsequenzen und geringer bzw. keiner Reversibilität, etwa ein Flugzeugunglück. Diese Fehler gelten gemeinhin als schwer und tragisch. Hier muss laut Spychiger am dringlichsten aus Fehlern gelernt werden. Dann gibt es Fehler, die wenige Konsequenzen haben, die aber auch nicht durch Wiederholung ausgebessert werden können. Das sind in der Regel alltägliche Fehler, die man schnell vergisst: zum Beispiel ein verpasstes Konzert.

Fehler mit geringen Konsequenzen und hoher Wiederholbarkeit sind jene Fehler, die vor allem in der schulischen Übungsphase auftreten und auch auftreten sollen. Zuletzt jene Fehler, die zwar eine große Konsequenz haben, aber wiederholbar sind. Spychiger nennt als Beispiel die fehlerhafte Linse im Hubble-Teleskop. Der Aufwand, sie zu reparieren, war enorm, der Fehler dennoch „nicht tragisch oder furchtbar“. Wer diese Einteilung vor Augen hat, der weiß eher, wann Fehler sinnvoll und wann sie gefährlich sind. Dann gibt es freilich noch Prozesse, die ursprünglich als Fehler bewertet wurden, sich aber als goldrichtig herausstellten, zum Beispiel die Entdeckung des Penizillins. Ein Laborant hatte ein Experiment falsch aufgestellt und Geschichte geschrieben. – Ein rares Glück.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung