Deutliche Handschrift dieses Papstes

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Am 17. Dezember hat er Geburtstag: Der argentinische Papst wird 77. Was soll man ihm wünschen? Auch wenn es pathetisch klingt: Beten! Darum bittet er selber immer wieder - damit er mit dem, was er vorhat, nicht scheitert, damit er sich gegen Widerstände durchsetzt. Wussten die Kardinäle, was sie taten, als sie den 76-jährigen Erzbischof von Buenos Aires, Jorge Mario Bergoglio, zum Papst wählten? Der Heilige Geist muss es gewusst haben! Denn die Kirche verändert sich seither, Tag für Tag.

Dieser Papst ist eine permanente Zumutung - fürs Establishment, das kirchliche wie das politische, das sich mit Phrasen und Deklarationen begnügt. Er hält keine Sonntagsreden. Er will Glauben alltagstauglich machen, "anschlussfähig“ - auch im Dialog mit Nicht-Glaubenden, mit Randständigen, Enttäuschten und Frustrierten, mit Verletzten, auch mit denen, die durch die Kirche gedemütigt wurden. Nun überrascht er wieder - mit dem Lehrschreiben Evangelii Gaudium (Die Freude des Evangeliums), von Kommentatoren als "Regierungserklärung“ oder "Road Map“ des seit bald neun Monaten im Amt befindlichen Papstes bezeichnet.

Gegen "übertriebene Zentralisierung“

Gut 250 Seiten umfasst das Dokument, das deutlich die Handschrift des Papstes trägt: 288 nummerierte Abschnitte mit 217 Anmerkungen, endend mit einem Gebet zu Maria - ein Text mit starken pastoralen Zügen, auch eine geistliche Lektüre, eine Gewissenserforschung für Kirche und Theologie, ein Spiegel, in den Politik und Gesellschaft nicht schauen können, ohne nachdenklich zu werden. Kein Stein bleibt auf dem anderen! Der Papst verordnet der Kirche Reformen auf allen Ebenen. Sich selbst nimmt er dabei nicht aus: Da ich berufen bin, selbst zu leben, was ich von den anderen verlange, muss ich auch an eine Neubesinnung des Papsttums denken. - Übertriebene Zentralisierung, so Franziskus, kompliziert das Leben der Kirche und ihre missionarische Dynamik (32). Schon in der Einleitung heißt es, dass man vom päpstlichen Lehramt nicht eine endgültige oder vollständige Aussage zu allen Fragen erwarten muss, welche die Kirche und die Welt betreffen - es gehe nicht, dass der Papst die örtlichen Bischöfe in der Bewertung aller Problemkreise ersetzt, die in ihren Gebieten auftauchen, er spüre … die Notwendigkeit, in einer heilsamen "Dezentralisierung“ voranzuschreiten (16).

Gelebte Kollegialität tut sich auf: Franziskus zitiert nicht nur seine Vorgänger Benedikt XVI., Johannes Paul II. oder Paul VI. ebenso wie Texte des letzten Konzils, sondern bringt wiederholt Aussagen von Bischofskonferenzen in Erinnerung: Afrikanische, asiatische, nordamerikanische, französische, indische, ozeanische Bischöfe kommen zu Wort.

In der Einleitung spricht der Jesuit, wenn er auf die Wichtigkeit der persönlichen Begegnung mit Jesus Christus verweist (3). Das Schlussdokument der lateinamerikanischen Bischofsversammlung von Aparecida (2007) aufnehmend, betont der Papst die Notwendigkeit, von einer rein bewahrenden Pastoral zu einer entschieden missionarischen Pastoral überzugehen (15). - Im ersten Teil wird eine Blaupause des missionarischen Aufbruchs der Kirche vorgelegt (19-49): Ich träume von einer missionarischen Entscheidung, die fähig ist, alles zu verwandeln, damit die Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, der Sprachgebrauch und jede kirchliche Struktur ein Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient (27). Der Beichtstuhl dürfe keine Folterkammer (44) sein, die Eucharistie sei nicht eine Belohnung für die Vollkommenen (47). Ganz stark: Mir ist eine "verbeulte“ Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber, als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist. (49)

Scharfe Wirtschaftskritik

Der zweite Teil (50-109) spricht Krisenphänomene des gemeinschaftlichen Engagements an. Sätze wie Diese Wirtschaft tötet (53) dürften irritieren. Finanzreformen ohne Ethik (57) taugten nichts. In der Süddeutschen Zeitung hieß es bereits: "Der Papst irrt“, weil er die positive Kraft des Kapitalismus unterschätze. Grenzen der Globalisierung, Rationalismus und Relativismus werden angesprochen. Oft hört man das nicht aus Rom: Ich bin unendlich dankbar für den Einsatz aller, die in der Kirche arbeiten (76). Der graue Pragmatismus des kirchlichen Alltags (83) und spiritueller Konsumismus (89) finden Erwähnung, Laien, Frauen, Jugendpastoral seien Herausforderungen.

Der dritte Teil (110-175) wendet sich der Verkündigung des Evangeliums zu: Die Kirche muss der Ort der ungeschuldeten Barmherzigkeit sein (114). Volksfrömmigkeit, die Wichtigkeit kultureller Kontexte, die Bedeutung der Homilie, die geistliche Lesung und Katechese mit dem Ohr beim Volk sowie geistliche Wachstumsprozesse werden behandelt.

Der vierte Teil (176-258) umschreibt die soziale Dimension des Evangeliums: Der Papst habe aber kein Monopol für die Interpretation der sozialen Wirklichkeit (184). Die Option für die Armen wird als theologische Kategorie ausgedeutet. Migranten, Menschenhandel, Ausbeutung von Frauen, Abtreibung - der klassische Problemkatalog kommt vor, aber eben neu: Es gibt viele Arten von Mittäterschaft (211). Der ökumenische wie der interreligiöse und der soziale Dialog im Kontext religiöser Freiheit sind genannt.

Hans Küng weist auf einen Gegensatz zwischen dem werbenden päpstlichen Ton und den harschen Worten von Erzbischof Gerhard Ludwig Müller hin: "Der Papst möchte vorangehen - der ‚Glaubenspräfekt‘ bremst.“ Sein Hinweis ist nicht aus der Luft gegriffen: "Das enorme Vertrauenskapital, das der Papst in den ersten Monaten angesammelt hat, darf nicht von der Kurie verspielt werden.“

Dieses lehramtliche Dokument schlägt nicht nur einen neuen Ton an. Es geht ihm auch um eine andere Art und Weise, Inhalte zu vermitteln und umzusetzen. Das ist absolut neu - und faszinierend.

Der Autor ist Chefredakteur der in München von Jesuiten herausg. "Stimmen der Zeit“

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