Deutschland in Euphorie

Werbung
Werbung
Werbung

Furche Nr. 46/16. November 1989

Unmittelbar nach dem Fall der Berliner Mauer waren die Zukunftsahnungen über die ddr noch ganz andere wie die spätere Wirklichkeit. Das zeigt auch ein Interview mit dem Ostberliner Schriftsteller Lutz Rathenow:

Furche: Wollen die ddr-Bürger die Wiedervereinigung?

Lutz Rathenow: Man spricht nur wenig darüber in der ddr. Einige Leute denken aber doch daran. Momentan besteht eine große Euphorie. [...]

Furche: Was wird von dieser Euphorie übrigbleiben?

Rathenow: Die gegenwärtige Stimmung ist Ergebnis einer ganz logischen psychologischen Entladung. Die Grenzen sind offen und Millionen strömen ungläubig heraus. Die Zahl der Übersiedler ist damit gleichzeitig kleiner geworden. Das zeigt, daß das Reiseproblem kein Ausreiseproblem ist. [...]

Furche: Steht die Opposition zur ddr?

Rathenow: Der Großteil der Opposition will eine eigene ddr. Man verteidigt die Identitätspartikel dieses Landes gegen gesamtdeutsche Versuchungen eines nichtintellektuellen Teiles der Bevölkerung.

Furche: Ist das auch Ihr Standpunkt?

Rathenow: Zum Teil; wobei ich finde, daß man die nationalen Bindungen, die bei vielen Leuten vorhanden sind, doch mitberücksichtigen muß. Vielleicht sollte man wirklich eine linke Deutschlandpolitik entwerfen mit Ideen einer Konföderation, eines allmählichen Hineinwachsens in einen europäischen Raum. Die sed betreibt eine Westannäherung mit dem Hintergedanken, ihre eigene Macht abzusichern. Durch selektive Öffnungen in einigen Bereichen will sie Glaubwürdigkeit bei westdeutschen Politikern erkaufen, um das einfließende Westgeld in der ddr mitverwalten zu können. [...]

Furche: Wird es freie Wahlen geben?

Rathenow: Das ist in Kürze gar nicht möglich. Wir haben hier keine politischen Parteien, die Erfahrung mit jahrelanger Parteiarbeit haben. Außerdem ist das Meinungsspektrum der Bevölkerung der ddr durch die real vorhandenen Gruppen und Parteibildungen nicht repräsentiert. Das "Neue Forum" ist eine Plattform, keine Partei; profiliert haben sich in relativ kurzer Zeit nur die Sozialdemokraten. Der Opposition fehlt außerdem der Wille zur Macht.

Furche: Welchen Staat wünschen sich nun die ddr-Bürger?

Rathenow: Viele wollen einen Staat, der die besten Momente des Westens mit einigen sozialen Absicherungen der ddr kombiniert. Oppositionelle, aber auch Teile der Partei glauben an ein völlig neues soziales Experiment. Es gibt sogar so etwas wie einen revolutionären Enthusiasmus. Manche hoffen, daß ab jetzt in der ddr gelingen wird, was bisher in allen Ländern des realen Sozialismus gescheitert ist.

Nächste Woche: H. Boberski 1990 übers umstrittene "Engelwerk".

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung