"Deutschland in Lethargie"

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Klaus Kinkel, deutscher Außenminister unter Helmut Kohl, nahm letzte Woche am Philosophicum Lech teil. Mit der Furche sprach er am Rande der Veranstaltung über die bevorstehenden Bundestagswahlen (22. September), das Verhältnis USA - Europa und die politische Lage in Österreich.

Die Furche: Am 22. September wird sich das Schicksal von Rot-Grün entscheiden. Was hat sich in Deutschland in den vier Jahren der Regierung Schröder-Fischer geändert?

Klaus Kinkel: Rot-Grün war angetreten, um "nicht alles anders, aber vieles besser" zu machen. Besonders was die wirtschaftliche Situation - hier wiederum speziell die Arbeitslosigkeit - anlangt, ist die Bilanz negativ. Schröder hat sein Versprechen, die Arbeitslosigkeit auf 3,5 Millionen zu senken, nicht eingehalten: Gewogen und zu leicht befunden.

Die Furche: 1998, nach 16 Jahren Helmut Kohl, gab es offenkundig ein starkes Bedürfnis nach einem Wechsel. Inwiefern hat der nun tatsächlich stattgefunden?

Kinkel: Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer haben erklärt, sie stünden für Kontinuität in der Außen- und Sicherheitspolitik. Daran haben sie sich im wesentlichen auch gehalten. Aber die letzten vier Jahren waren in der Außen- und Sicherheitspolitik natürlich nicht die entscheidenden seit dem Krieg. Die entscheidenden Jahre waren die bis zur Wiedervereinigung nach dem Wegfall der Ost-West-Auseinandersetzung. Mit Ausnahme des Kosovo- und des Afghanistan-Einsatzes waren die letzten vier Jahre also nichts Neues. Dennoch gibt es Anlass zur Kritik: So wurde Lateinamerika - unsere wichtigste Kulturbeziehung - vernachlässigt, der asiatisch-pazifische Raum ist in den Hintergrund getreten. Es war ein bisschen eine CNN-ausgerichtete Politik, die die Menschenrechte, für die sich Schröder und Fischer immer so stark gemacht haben, nicht in dem Ausmaß berücksichtigt hat. Da sind sie gestartet wie ein Tiger und gelandet wie ein Bettvorleger in Taschentuchgröße.

Die Furche: Apropos CNN-ausgerichtet: Das Verhältnis zu den USA ist zur Zeit ja nicht das beste ...

Kinkel: In der Tat. Da hat der Bundeskanzler aus populistischen Gründen einen zentralen Fehler gemacht. Es ist nicht so, dass eine Seite Krieg will und die andere nicht - niemand will Krieg; aber die Art und Weise, wie Schröder und Fischer mit den Amerikanern - unserem wichtigsten Bündnispartner neben den Franzosen - umgehen, ist schon bemerkenswert.

Die Furche: Abgesehen von den deutsch-amerikanischen Irritationen - wie beurteilen Sie das Verhältnis zwischen der EU und den USA?

Kinkel: Amerika ist die einzig übriggebliebene Weltmacht; es ist politisch, wirtschaftlich, militärisch allen anderen Ländern so sehr davongezogen, dass es manchmal leider Gottes die notwendige Sensibilität seinen Partnern, auch Russ-land, gegenüber vermissen lässt. Die Amerikaner machen viele Dinge, die uns ärgern: Kyoto-Protokoll, Internationaler Strafgerichtshof - was mich besonders ärgert, weil es ein Lieblingskind von mir war -, Stahlzölle, bis hin zum Nichtbezahlen der UNO-Beiträge. Deshalb ist es wichtig und richtig, in aller Freundschaft und Offenheit mit den Amerikanern zu reden - aber eben in der richtigen Form und im richtigen Ton.

Die Furche: Es heißt immer wieder, die USA werden Europa nicht ernst nehmen, solange es sich nicht auf eigene Füße stellt, nicht geschlossen auftritt, mit einer Stimme spricht. Sehen Sie die Chance, dass sich in der Europäischen Union auf absehbare Zeit die Dinge in diese Richtung entwickeln?

Kinkel: Realistisch ist, dass es nach der Erweiterung noch schwieriger sein wird, mit einer Stimme zu sprechen, als das schon bisher der Fall war. Die Europäer müssen sich - im Unterschied zur Präsidialdemokratie USA - immer auf einen Nenner einigen, manchmal größer, manchmal kleiner - leider oft sehr klein. Europa hat es jedenfalls bisher nicht verstanden, im wirtschaftlichen oder sicherheitspolitischen Bereich Synergien zu bündeln. Wenn uns das gelingen würde, dann wären wir auch über die von Kissinger geforderte Telefonnummer erreichbar.

Die Furche: Mit dem Ende dieser Legislaturperiode tritt in Deutschland die sogenannte "Generation Kohl" ab: Helmut Kohl scheidet aus dem Bundestag aus, Sie selbst ebenfalls. Was hat denn die "Generation Kohl" ausgezeichnet, und wie könnte man die heutige Generation nennen? Ist das die "Generation Schröder" oder gar die "Generation Westerwelle"?

Kinkel: Es treten jetzt viele aus einer Generation ab, die 1945 bewusst erlebt hat; die gewusst hat, was es bedeutet, nach furchtbaren zwei Weltkriegen, an denen Deutschland mit schuld war, das Land wieder in die Völkergemeinschaft zurückzuführen; nach vielen komplizierten Jahren der Ostpolitik die Ost-West-Auseinandersetzung zu überwinden und Deutschland wiedervereinigt zu haben. Die jetzige Generation, etwa der Außenminister, hat Amerika zum ersten Mal im Vietnam-Krieg erlebt. Daraus ergibt sich verständlicherweise eine völlig andere Einstellung. Das kann man niemandem vorwerfen, aber das muss man analytisch feststellen: Da gibt es sicher eine Zäsur.

Die Furche: Steht nicht gerade der Chef Ihrer Partei (FDP; Anm.), Guido Westerwelle, für einen Politikertypus, der sehr im Trend liegt? Lässt sich da nicht ein neuer, durchaus umstrittener, Politikstil erkennen?

Kinkel: Ja, da hat ganz bewusst ein Wechsel im Stil stattgefunden. Westerwelle hat mit diesem seinem neuen Stil fünf Landtagswahlen erfolgreich bestritten. Das muss auch jemandem zu denken geben, der mit dem einen oder anderen dieses neuen Erscheinungsbildes nicht so sehr einverstanden ist. Energisch widersprechen muss ich freilich Versuchen, die FDP so darzustellen, als stünde sie einfach für Spaßgesellschaft ohne Inhalt und Substanz. Es hat keinen Sinn, mit verkniffenem Gesicht Politik zu machen; gerade wenn man junge Menschen ansprechen will, muss man auch andere Elemente in die Politik einbringen. Aber bei all dem hat die FDP doch ein Programm, mit dem sie den Vergleich mit den anderen Parteien nicht scheuen muss.

Die Furche: Eingeprägt hat sich aber vor allem das "Projekt 18": Der 18er als Luftballons, auf Westerwelles Schuhsohlen eingraviert ...

Kinkel: Hinter dem "Projekt 18" steht der Anspruch, auf gleicher Augenhöhe mit den anderen anzutreten und von dem Fünf-Prozent-Partei-Image wegzukommen. Und das ist ja doch in vieler Hinsicht gelungen.

Die Furche: Halten Sie es für richtig, dass sich Ihre Partei nicht auf einen Koalitionspartner festlegt? Von Ihnen etwa ist ja eine Präferenz für eine Zusammenarbeit mit der Union ...

Kinkel: Vorsicht! Ich trage selbstverständlich die Linie der Partei mit. Die Nichtfestlegung hat damit zu tun, dass wir von der Rolle als bloßer Mehrheitsbeschaffer wegkommen und mit den anderen gleichberechtigt in einen Wettbewerb treten wollen. Daher keine Koalitionsaussage, wir versuchen so stark zu werden, dass wir unsere Vorstellungen in der Steuerpolitik, in der Bildungspolitik und vielen anderen Bereichen mit einem Partner umsetzen können.

Die Furche: Worum geht es inhaltlich am 22. 9.? Was sind die Zukunftsfragen für Deutschland?

Kinkel: Das Land ist wirtschaftlich von Lethargie gelähmt. Es muss nach dem 22. 9. massive Einschnitte in unser ächzendes Gesundheits-, Sozial-, Renten- und Bildungssystem geben. Wenn wir das nicht schaffen, wird es schwierig werden für Deutschland.

Die Furche: Diese Einschnitte halten Sie mit jedem Partner für machbar?

Kinkel: Da müssen wir abwarten, was sich arithmetisch ausgeht.

Die Furche: Sie haben sich seinerzeit sehr scharf gegen die EU-Sanktionen gegenüber Österreich ausgesprochen. Wie sehen Sie die jüngsten politischen Entwicklungen in Wien?

Kinkel: Ich will mich dazu nicht äußern, weil man sich da heraushalten sollte; da hat ja die derzeitige Bundesregierung meines Landes einen Fehler gemacht. Ich kann nur sagen, dass wir alle in Deutschland und in ganz Europa ein riesiges Interesse daran haben, dass in Österreich stabile Verhältnisse herrschen. Wenn jetzt Neuwahlen kommen, wird man sehen, wohin die Reise geht. Ich hoffe, dass die Österreicher klug wählen.

Das Gespräch führte

Rudolf Mitlöhner.

Repräsentant der "alten" FDP: Als die Liberalen noch nicht so lustig waren

"Einen eigenen Kanzlerkandidaten würden die Wähler als einen Zacken zu viel, als übertrieben empfinden", meinte Kinkel im Vorjahr. Auch das "Projekt 18", also das kess als Werbebotschaft lancierte Ziel der Freien Demokratischen Partei (FDP), bei den Bundestagswahlen 18 Prozent zu erreichen (was einer Verdreifachung des Ergebnisses von 1998 gleichkäme), war nicht nach seinem Geschmack. Trotzdem wurde FDP-Chef Guido Westerwelle Kanzlerkandidat und tourt seitdem mit aufblasbaren 18ern und dergleichen mehr durch die Lande. Spaßpolitik nennen es die Kritiker. Kinkel, selbst gewiss alles andere als ein Repräsentant der Fun-Gesellschaft, kann nicht umhin, anzuerkennen, dass dieser Kurs bislang - bei etlichen Landtagswahlen - erfolgreich war und seine Partei am kommenden Sonntag auch auf Bundesebene in den zweistelligen Prozentbereich katapultieren könnte, für die deutschen Liberalen alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Zu den an der Grenze zum Antisemitismus dahinschrammenden Äußerungen seines Parteifreundes Jürgen Möllemann - auch sonst ein innerparteilicher Kontrahent - ist Kinkel auf Distanz gegangen. Scharfe Kritik übte Klaus Kinkel, von 1992 bis 1998 Außenminister unter Bundeskanzler Helmut Kohl, an der Reaktion der EU-14 - besonders am Verhalten der deutschen rot-grünen Bundesregierung - auf die Bildung der VP/FP-Koalition. Vor seiner Zeit an der Spitze der deutschen Diplomatie war Kinkel Justizminister (1991/92); 1993 bis 1995 war er Parteichef der FDP; seit dem Regierungswechsel 1998 saß Kinkel als Abgeordneter im Deutschen Bundestag. Nun hat er nicht mehr kandidiert: Der 1936 geborene Schwabe will sich "zurücknehmen" und mehr um seine Familie kümmern: Kinkel ist verheiratet und hat drei Kinder. Beim diesjährigen Philosophicum Lech zum Thema "Die Kanäle der Macht" (s. nächstwöchiges Dossier) nahm Kinkel an der Eröffnungsdiskussion (u. a. mit Ron Sommer, Hubert Burda, Franz Morak) teil. RM

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