Dialog zwischen Gefühl UND VERSTAND

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Unser Lebensweg ist gepflastert mit Entscheidungen. Wie funktionieren diese Prozesse - und was bedeutet das für politische Wahlen?

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Unser Lebensweg ist gepflastert mit Entscheidungen. Wie funktionieren diese Prozesse - und was bedeutet das für politische Wahlen?

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Das höchste Amt im Staat. Zwei Kandidaten. Ein Wahlkampf, der in die absolut heiße Phase eingetreten ist. Was wird nun wahlentscheidend sein? Welche Faktoren werden die Entscheidung lenken? Wer es wirklich wüsste, wäre nicht in der Wissenschaft, sondern in der hoch bezahlten Hellseherei. Der erste Wahlgang hat zumindest eines klar gezeigt: Die traditionellen Wählerbindungen sind in Bewegung geraten. Das ist eine Entwicklung, die auch in anderen europäischen Ländern zu beobachten ist. "Eine einfache Daumenregel in der Wahlkabine bestünde ja darin, die Partei zu wählen, die man 'schon immer' gewählt hat", sagt der deutsche Psychologe Ralph Herwig. "Diese Loyalität gegenüber den etablierten Parteien gerät heute zunehmend unter Druck."

Die Macht der Faustregeln

Hertwig sieht bei Wahlen eine Vielzahl von Motiven, die entlang des Spektrums zwischen streng rationalen und emotionalen Entscheidungen angesiedelt sind. "Es gibt jene 'deliberaten' Wähler, die Parteiprogramme lesen oder die Konsequenzen der Wahl reflektieren, etwa was ein Ergebnis für das Parteiensystem, die Koalitionsoptionen oder den inneren Zusammenhalt im Land bedeuten könnte", bemerkt der Direktor für den Fachbereich "Adaptive Rationalität" am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. "Andere wählen eher auf der Grundlage eines Bauchgefühls. Man wählt zum Beispiel die Partei, die für das eine Thema steht, das einen gerade umtreibt, sei es nun die Flüchtlingskrise oder die Beziehung zur EU." Dass auch "Bauchgefühle" ihren Wert bei Entscheidungen haben, hat ein anderer Bildungsforscher des Berliner Instituts herausgearbeitet. Für Gerd Gigerenzer werden diese Gefühle aus Erfahrung und Wissen gespeist, die unbewusst verarbeitet werden. Intuitive Entscheidungen beruhen demnach auf Heuristiken: Das sind Faustregeln, in denen etwa die zuverlässigste Information eingeschmolzen ist -während viele andere Aspekte ausgeblendet werden. Laut Gigerenzer entscheiden wir mit Hilfe dieser Heuristiken schneller, aber auch besser. Zum Beispiel beim Autokauf: Hier gäbe es eigentlich vielfältige Daten zu berücksichtigen, die umfassende Information kann aber auch verwirrend sein.

Dann mag es hilfreich sein, sich auf wenige wesentliche Merkmale zu beschränken -etwa punkto Langlebigkeit, Benzinverbrauch, etc. -, oder das Urteil einer kompetenten Vertrauensperson einzuholen. Denn intuitive Entscheidungen funktionieren laut Forschung nur dann, wenn ein ausreichendes Maß entsprechender Erfahrung vorhanden ist.

Andere Forscher sehen den Einfluss der Intuition kritischer: Daniel Kahneman hat den Begriff des "schnellen Denkens" geprägt, das automatisch in Aktion treten kann. Es verbraucht weit weniger Energie als der bewusst kalkulierende Verstand, der alle Optionen auf die Waagschale legt und komplexe Berechnungen anstellt. Evolutionär gesehen erhöhte das schnelle System die Überlebenschancen, wenn man "die schwerwiegendsten Bedrohungen oder die vielversprechendsten Gelegenheiten schnell erkannte und umgehend darauf reagierte".

Vorurteile und Denkverzerrungen

Dieses spontane Agieren ist Gold wert, wenn man auf der Autobahn eine Gefahrensituation frühzeitig abschätzen muss oder beim Fußball das Spielgeschehen schneller als die Gegner antizipiert. Doch der amerikanische Psychologe, der 2002 mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet wurde, hat auch nachgewiesen, dass diese Art des Denkens immer wieder in kognitive Fallen führt. Die Folgen sind Vorurteile und Denkverzerrungen.

Unsere Entscheidungen werden sowohl durch biologische als auch durch Umweltfaktoren beeinflusst: Die Ausschüttung von Neuro-Botenstoffen oder männlichen und weiblichen Sexualhormonen spielen zum Beispiel mit hinein. Testosteron macht Männer risikofreudiger, ein hoher Dopamin-Spiegel lockt mit starken Gefühlen der Belohnung. Selbst die Tageszeit kann eine Rolle spielen, wie israelische Forscher anhand einer Serie von Gerichtsurteilen festgestellt haben: Je später, desto härter fielen die von den Richtern bemessenen Strafen aus. Der Mensch ist nun einmal ein bedingtes Wesen, könnte man ernüchtert folgern.

Das freilich heißt nicht, das ihm kein freier Wille und keine reflektierte Entscheidung zuzutrauen wäre. Der Arzt Joachim Bauer etwa hat ein flammendes Plädoyer für die Kunst der "Selbststeuerung" verfasst, basierend auf Impulskontrolle, Innehalten und Abwägen. Dem entspricht auf einer biologischen Ebene die Stärkung des Stirnhirns, wo diese Eigenschaften entwickelt und verankert werden.

Die Fähigkeit des selbstbestimmten Entscheidens zu kultivieren, ist mehr denn je relevant: Denn in den postmodernen "Multiple-Choice"-Gesellschaften ist das Leben zu einem Wald von Möglichkeiten geworden. Manche Menschen erkennen ihre neuen Freiräume und verstehen diese auch zu nutzen; andere verlieren den Überblick und irren endlos umher. Dass die Erweiterung der Entscheidungsspielräume nicht unbedingt glücklicher macht, ist vielfach belegt. So kauften Supermarkt-Kunden, die in einem Experiment 24 Sorten Marmelade verkosten durften, weniger als solche, die nur sechs Marmelade-Sorten testeten -und sie waren noch dazu unzufriedener damit.

Das sprichwörtliche "Weniger ist mehr" erhält hier seine wissenschaftliche Bestätigung: Kann man unter vielen Möglichkeiten wählen, schleicht sich rasch das Gefühl ein, etwas falsch gemacht zu haben, so der Befund des US-Psychologen Barry Schwartz, Autor des Buches "Anleitung zur Unzufriedenheit: Warum weniger glücklicher macht". Wie die westlichen Gesellschaften zuletzt im großen Maßstab von der "Qual der Wahl" heimgesucht worden sind, hat der Soziologe Alain Ehrenberg in monumentalen Studien herausgearbeitet.

Wahl des Entscheidungsstils

Im Wahlkampfgetöse gewinnen heute auch Show-Elemente an Bedeutung. Wie sehr hängt die Wahlentscheidung noch an den politischen Inhalten, und welche Rolle spielen andere Kriterien? "Natürlich ist jede Wahl auch eine Abstimmung über die Persönlichkeit", bemerkt Ralph Hertwig. "Bei der Frage, wen man wählt, geht es auch darum, welche Entscheidungsstile man bei Politikern sehen will, die später mit dem Wohl des Landes betraut werden."

Man könne sich etwa für einen sorgfältig abwägenden Stil entscheiden, wie er etwa Barack Obama oder Angela Merkel zugeschrieben wird. Oder man möchte jemanden wählen, der zu impulsiven Entscheidungen und andauernden Provokationen neigt wie Donald Trump. "Bei Wahlen geht es auch um die Frage, welche Fähigkeiten ein Kandidat mitbringt: Kann er oder sie Koalitionen bilden und diese aufrecht erhalten? Führt der Kandidat das Land in die politische Isolation -oder sucht er den Schulterschluss mit anderen Regierungen oder Organisationen?" Das seien keineswegs triviale oder nebensächliche Fragen, betont der deutsche Psychologe. Wohl genauso wenig wie eine Fähigkeit, welche die Wähler heute offensichtlich mitbringen sollten: Risikokompetenz.

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