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Die Atomkraft und der Frieden der Menschheit

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Weiden Amerika und Rußland jemals einen solchen, totalen, ethischen, internationalen Atompikt schließen, der wirklich Erfolg verspricht? Nach menschlichem Ermessen werden die beiden Weltmächte diesen Pakt niemals schließen. Sie werden beide vielleicht noch geraume Zeit vor der sie gleicherweise bedrohenden Katastrophe heilsame Furcht empfinden, wodurch ihnen wechselseitige Zurückhaltung vorübergehend zur zweiten Natur werden kann (wie Albert Schweitzer es in seiner jüngsten Kundgebung in Oslo erhofft). Darin liegt zweifellos das Rudiment einer internationalen Ethik, das noch immer nachwirkt. Daß aber daraus in auto- chthoner Entfaltung jemals eine ernsthafte Verständigung zu werden vermöchte, bleibt unwahrscheinlich. Da aber ein bloß labiles Aequi- librium, das nur noch von ethischen Restbeständen zehrt, auf die Dauer der menschlichen Irrationalität nicht gewachsen ist, so muß nach aller historischen Erfahrung schließlich der Zufall, wenn nichts anderes, die Katastrophe aus- lösen.

Der historische Schlüssel für jede Atomverständigung zwischen Amerika und Rußland, also für eine fruchtbare „Koexistenz" der beiden Weltreiche, in deren Rahmen sich die internationale Ethik zu entfalten vermöchte, liegt allein beim Christentum, Dieser Tatbestand läßt die historische Verantwortung des Christentums für unser Zeitalter und seine Zivilisation in elementarer Weise erkennen. Christentum heißt in diesem Zusammenhang nicht irgendeine christliche Gruppe, sondern in letzter Linie allein die geistige Weltmacht der katholischen Kirche, die freilich nur dann aktualisierbar ist, wenn sie einerseits das Sprachrohr aller Getauften wird, anderseits aber auch ein vielstimmiges Sprachrohr ist, in dem neben der Stimme der hierarchischen Kirche auch die des christlichen Laientums, das in seiner Weise verantwortlich ist für Familie, Staat und Zivilisation, sich durchzusetzen vermag. Nulla Salus Extra Ecclesiam Romanam, heißt es in dieser Frage in ganz besonderer Weise, auch wenn es die Kirche als der Interrex der Zivilisation ist, die hier in erster Linie in Erscheinung tritt. Obwohl es sich um ein Problem handelt, in dessen Bereiche der kirchlichen Autorität zweifellos keine Unfehlbarkeit zukommt, in dem sie vielmehr abhängt vom Urteil der wissenschaftlichen, politischen und militärischen Fachleute, in dem es daher eine innere geistige Entwicklung des kirchlichen Standpunktes gibt, so ist es doch das Wort der Kirche, auf das die Welt wartet und ohne das sich die Mächte dieser Welt nicht verständigen können.

Wie es sich in der sozialen Frage gezeigt hat, die dem sittlich-religiösen Kern des unmittelbaren kirchlichen Aufgabenbereiches weitaus näher steht als die Frage des Atomkrieges, gibt es eine innere geistige Entwicklung in den Lehräußerungen der Kirche (von „Rerum novarum“ bis auf „Quadragesimo anno“), die sich aus unveränderbaren Kernaussagen, theologischen Schlußfolgerungen und historischen Erfahrungen einer ehrwürdigen tausendjährigen Lebensordnung zusammensetzen. Man wird daher auch in der Atomfrage, in der es die kompliziertesten. technischen Voraussetzungen diesseits der Theologie zu verarbeiten gilt, nicht erwarten dürfen, daß die kirchliche Autorität von heute auf morgen die allein zielführende Antwort bereitstellt; es kommt vielmehr auf die Entwicklungsrichtung an, die den endgültigen Durchbruch verheißt, der das Ei des Kolumbus ist, darnach die Welt vergeblich sucht.

In der Tat lassen sich die hauptsächlichsten Kundgebungen Pius XII. zur Atomfrage in diesem verheißungsvollen Licht begreifen. Der päpstliche Weg führt von einer ersten, noch stark optimistischen Betrachtung der technischen Errungenschaften auf dem Gebiete der Atomkraft (1943), die damals dem fachmännischen Urteil von Max Planck folgte, zu einem immer pessimistischer werdenden Urteil mit dringenden Warnungen und ernsten Vorschlägen an die Weltmächte, sich über die Atomkraft zu verständigen (1953 54). In allen seinen Aeußerun- gen hält der Papst am Prinzip der gerechten Selbstverteidigung“ fest, ein Prinzip, mit dem das Christentum steht und fällt. Das Christentum hat immer gelehrt, daß es einen gerechten Krieg geben kann und daß die Verwerfung der Gewaltanwendung als eines in sich unsittlichen Mittels falsch ist. Dieses Prinzip ist auch in der jüngsten päpstlichen Aeußerung (30. September 1954) wieder betont, jedoch mit Einschränkungen, die es zwar nicht als Prinzip, aber im Falle des Atomkrieges praktisch aufzuheben scheinen. Nach Auffassung des Papstes ist die Frage der ..Rechtmäßigkeit“ des Atomkrieges keine Frage, die aus dem Prinzip des gerechten Krieges beantwortet werden kann, sondern eine Tatbestandsfrage. Es gibt kein abstraktes sittliches Recht zu dieser Art von Kriegführung, wenn es auch ein konkretes sittliches Recht im Falle der gerechten Selbstverteidigung geben kann, Atomwaffen anzuwenden. Doch müßte nach der Auffassung des Papstes der Rechtmäßigkeit der Selbstverteidigung mit Atomwaffen durch internationale Vereinbarung eine sehr enge Auslegung gegeben werden. Wenn nämlich (und solange sich?) diese Art von Kriegführung jeder Begrenzung entzieht, dann ist sie als in sich selbst unsittlich zu verwerfen. In einem solchen Falle handelt es sich nicht mehr um eine Verteidigung gegen die Ungerechtigkeit oder die Sicherung rechtmäßigen Besitzes, sondern um die reine und nackte Vernichtung alles menschlichen Lebens im Aktionsbereiche der Atomwaffen, was unter gar keinen Umständen sittlich erlaubt ist. Während der Papst nach scholastischer Kriegstheologie theoretisch an dem Prinzip des gerechten Krieges auch mit Atomwaffen festhält (ohne es zu spezifizieren), wirft er die ernste Frage auf, ob und wo es in der Verwendung der Atomwaffen überhaupt noch eine Möglichkeit gibt, sie technisch anders als für die reine und nackte Massenvernichtung einzusetzen. Wie die päpstliche Kundgebung zur Atomfrage gewisse wissenschaftliche, politische und militärische Erkenntnisse diesseits der Theologie voraussetzt, so bietet sie auch wieder umgekehrt Stoff genug, um im weltlichen Bereiche organisch weitergeführt zu werden.

Der springende Punkt ist der Begriff des , gerechten Krieges“. Gibt es technisch noch eine gerechte Verwendung der bakteriologischen, chemischen, radiologischen und atomischen Kriegsmittel zum Zwecke der Selbstverteidigung gegen ungerechten Angriff? In der Formel vom „gerechten Krieg“ steckt eine große geistige Leistung der traditionellen Scholastik, die längst ihre Bedingungen daran geknüpft hat, die allein auch einen Verteidigungskrieg zu einem gerechten machen. So setzt die „rechtmäßige Selbstverteidigung“ voraus, daß der Staat,

der sich verteidigt, des Sieges ‘sicher sein muß (seine Selbstverteidigung also kein selbstmörderischer Verzweiflungsakt sein dar f), daß die Selbstverteidigung für das eigene Volk mehr Vorteile als Nachteile haben muß (also nicht zu seiner vollständigen Vernichtung führen darf), und daß schließlich auch für die Völkerfamilie daraus Vorteile, nicht Nachteile folgen (darnach die Selbstverteidigung des einen Volkes nicht auf Kosten der nationalen Existenz des anderen gehen darf). Aus diesen Bedingungen, die freilich in concreto einer sehr verschiedenen Auslegung und Anwendung fähig sind, haben eine Reihe moderner Theologen den Schluß gezogen, daß es in unserer Zeit der Atomwaffen überhaupt keinen gerechten Krieg mehr geben kann (so auch A. Ottaviarii, F. Stratmann OP., P. Lorson SJ.). Dieser Schluß ist absolut zwingend, wenn man die Erkenntnis des technischen Sachverhaltes, die dem theologischen Urteil vorausgehen muß, richtig ins Kalkül zieht.

Von allen modernen Kriegsmitteln scheinen die radiologischen (aus den radioaktiven Abfallprodukten) am allerwenigsten Raum für eine gerechte Verwendung zu lassen, da die unkontrollierte und unkontrollierbare Massenvernichtung ohne jede Vorschützung eines Unterschiedes zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten sein innerstes Wesen ist. Nach dem Gesetz, wonach die Waffe mit dem größten Vernichtungspotential die Richtung weist, muß sich in Hinkunft auch der mögliche bakteriologische und chemische Krieg an dem radiologischen Maximaleffekt orientieren. Dasselbe Verhältnis herrscht zwischen der A-Bombe alten Stils und der H-Bombe neuen Stils; die letztere hat die erstere obsolet gemacht. Daß aber die H-Bombe das „ideale" Massenzerstörungsmittel ist, das, auch wenn man es vorläufig noch auf bestimmte einzelne Städte abstellen würde, im Prinzip (und vermutlich auch in seiner weiteren Entwicklung) ohne Unterscheidung zwischen militärischen und nichtmilitärischen Objekten auf reine und nackte Vernichtung ausgerichtet ist, kann kaum ernsthaft bestritten werden. Flöchstens die Atomartillerie käme noch als rechtmäßige Waffe in einem gerechten Krieg in Frage Auch hier muß jedoch im modernen Krieg schließlich allein der Maximaleffekt bestimmen, Welche Waffe zur Verwendung kommt, ganz abgesehen davon, daß die modernen Generalstäbe mit steigender Atomisierung verlernen müssen, überhaupt noch einen Nichtatomkrieg oder einen Atomkrieg zwe’fen Ranges in ihre Rechnung einzustelkn.

Wie die militärischen Dinge liegen, gibt es gegen den modernen Krieg in allen seinen Formen, bakteriologisch, chemisch, radiologisch und atomisch, überhaupt keine Verteidigung mehr, es sei denn durch den Präventivkrieg oder durch die Wiedervergeltung. Sollte der „gerechte Krieg“ in deren Anwendung bestehen? Daß der Präventivkrieg immer unsittlich jst, wird man heute weniger denn jemals zuvor zu leugnen vermögen. Das Wort von der „massiven Wiedervergeltung“ ist von der amerikanischen Außenpolitik geprägt worden (John Foster Dulles), der es von der zentralen amerikanischen Atomkraftkommission (unter Führung des Finanziers Admiral Lewis L. Strauss) zur Verfügung gestellt wurde, die es ihrerseits auch wieder aufgegriffen hat. Daß gerade das Prinzip der Wiedervergeltung, massiv oder nicht, vielleicht der alttestamentlich-cromwellschen Gedankenwelt, nicht aber der christlichen Ethik angehört, kann kein Zweifel sein. Wenn irgendein ethisches Prinzip in klassischer Weise das christliche Denken verkörpert, dann ist es das der bewuß ten Nichtwiedervergeltung. Wenn es so ist, daß es im allein möglichen konsequenten Atomkrieg gar keine Verteidigung, sondern bestenfalls nur eine Wicdervergeltung gibt, dann kann daraus nicht der Schluß gezogen werden, daß nunmehr die Wiedervergeltung ein Stück des gerechten Krieges und ein christliches Prinzip geworden sei, sondern allein umgekehrt, daß es dort keinen gerechten Krieg mehr geben kann, wo es nur noch Wiedervergeltung gibt.

Darnach bedarf die Idee der gerechten Selbstverteidigung unter den gegebenen Umständen einer verbesserten Interpretation. Die Vorstellung, die auch unter den Bischöfen des Weltkatholfzismus noch viele Anhänger besitzt, daß es eine sittliche Verpflichtung gibt, sich gegen den ungerechten Angriff mit allen Mitteln, auch dem Gegenangriff, _ zu verteidigen, entspricht zwar der überlieferten nationalen, nicht aber der allein mehr zeitbe- stimmten christlichen Ethik. Der jüngst verstorbene französische Jesuit P. Pierre Lorson, einer der konsequentesten theologischen Gegner des möglichen Atomkrieges, hat aus seinem tiefen gallischen Instinkt, für den eine tausendjährige Erfahrung spricht, verneint, daß ein Volk sich „um seiner Ehre willen“ unter allen Umständen gegen einen überwältigenden ungerechten Angriff, vor allem also gegen den Atomangriff, mit irgendwelchen Mitteln verteidigen muß. Die Nichtverteidigung ist in einem solchen Falle sittlicher als die Selbstvernichtung in „gerechter Selbstverteidigung“. Denn nicht in der wieder vergeltenden Zerstörung, die zur Selbstvernichtung führen kann, liegt die entscheidende Antwort auf die Zerstörung und Vernichtung durch den Eroberer, sondern allein in dem zähen geistigen und sittlichen Widerstand, den ein bodenverwurzeltes Volk gegen die Fremdherrschaft einzusetzen vermag. Darin liegt das tausendjährige Geheimnis der Geschichte, das Kommen und Gehen so vieler Eroberer, während die alten Völker, die Träger der Zivilisation, vor- ihnen und nach ihnen bestanden. In der Bergpredigt hat Christus dieses Grundgesetz der Geschichte in einem einzigen Satz umschrieben: Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen!

In einer der letzten päpstlichen Kundgebungen (l. November 1954) wurde betont, daß der Kirche ein Urteil über alle moralischen Fragen zustehe, auch wenn sie aufs engste mit politischen, sozialen oder internationalen Fragen Zusammenhängen. Im Zeitalter der Demokratie, in dem jedermann ein Urteil über alles eingeräumt ist, wird kein aufgeklärtes Denken dieses Recht

der Kirche mehr bestreiten wollen. Zur moralischen Norm, welche die Kirche bereitstellt und verkündigt, muß freilich erst noch die sittliche Entscheidung und Leistung der Christen hinzutreten, damit das Antlitz der Erde erneuert werde. Das gilt in höchstem Maße auch für die Frage des gerechten Krieges im Atomzeitalter. Nur wenn es in diesem Fragenbereiche christliche Laienkräfte gibt, Staatsmänner und Wissenschaftler. die aus der gegebenen historischen Situation eindeutige sittliche Erkenntnisse und Schlußfolgerungen ziehen, wird auch die Kirche imstande sein, in dieser Schicksalsfrage der Menschheit mit immer stärkerem Nachdrucke zu sprechen. Aus ihrer eigenen historischen Verantwortung heraus sollen die christlichen Laien ohne Scheu nach immer entschiedenerer Führerschaft der Kirche auf diesem Gebiete (und wäre es nur die eines Interrex der Zivilisation, die selbst führerlos ist) verlangen. Wenn die Kirche immer eindeutiger redet, werden auch die beiden Weltmächte gezwungen werden, immer eindeutiger im . Sinne des Christentums und seiner Ethik zu handeln.

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