Sarajevo - © Foto: Pixabay

Dževad Karahasan: „Die Barbaren wurden belohnt“

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Das Dayton-Abkommen ist ein Albtraum für Bosnien-Herzegowina: Das Land lebt in einer Okkupation unter rassistischen Voraussetzungen, meint der bosnische Dichter Dževad Karahasan.

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Das Dayton-Abkommen ist ein Albtraum für Bosnien-Herzegowina: Das Land lebt in einer Okkupation unter rassistischen Voraussetzungen, meint der bosnische Dichter Dževad Karahasan.

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Dževad Karahasan, geboren 1953 in Duvno in Bosnien, Studium in Sarajewo, Dramaturg und Redakteur, Professor für Dramaturgie an der Akademie in Sarajewo. Gastprofessor an verschiedenen europäischen Universitäten, Stadtschreiber in Graz 1996–2003. Karahasan gilt als bedeutendster bosnischer Dichter der Gegenwart. Ende März erhielt er den Preis für Europäische Verständigung der Leipziger Buchmesse. Zurückgekehrt nach Graz stellte er sich dem Gespräch mit der FURCHE und gestand, dass er noch zu müde sei, um aus seinem „schwarzen Loch" zu kommen – die Verbitterung sei stärker als die Hoffnung…

DIE FURCHE: Die übrigen Länder, die ehemals hinter dem Eisernen Vorhang lagen, müssen die Zeit der kommunistischen Diktatur überwinden, Bosnien überdies einen Krieg. Wie sieht heute die politische Situation aus?

Dževad Karahasan: Am einfachsten könnte ich Ihnen so antworten: Von Leuten, mit denen ich im Krieg in Sarajewo zusammen war, bekomme ich immer öfter zu hören: Erinnerst du dich, wie prächtig wir es im Krieg gehabt haben?

DIE FURCHE: Wie soll ich das verstehen?

Karahasan: Sehr einfach. Der Mensch ist auch ein geistiges Wesen, er lebt im Geist und in der Zeit. Im Krieg war die äußere Wirklichkeit für uns ohne Zweifel schrecklich. Man konnte aber sehr wohl an die grundlegenden Werte unserer Kultur glauben, in der wir aufgewachsen waren: Gerechtigkeit, Freiheit, Wahrheit, die Möglichkeit, Lüge und Fälschung von Wahrheit und Wahrhaftigkeit zu unterscheiden. Jetzt, unter Okkupation, die auf Neudeutsch "Wiederaufbau" genannt wird, ist das nicht mehr möglich. Alle grundlegenden Werte unserer Kultur, sind verraten worden. Die Okkupation gründet auf rein rassistischen Prinzipien. Der EU-Beamte, genannt "Hoher Kommissar", darf nach Lust und Laune Gesetze verabschieden, ohne irgendwelche Verantwortung.

DIE FURCHE: Ich war selbst in Sarajewo; die Leute haben sich beschwert, sie würden wie ein Kolonialvolk behandelt, aber auf die Frage: Soll die Besatzung sofort abziehen? war die Antwort: Um Gottes Willen - Nein! Was wäre gewesen, wenn die Nato nicht eingegriffen hätte?

Karahasan: Es wäre noch schlimmer gewesen. Aber es ist immerhin schon zehn Jahre her, dass der Krieg beendet wurde und die Okkupation wird immer noch mit diesem negativen Argument gerechtfertigt. In den zehn Jahren der habsburgischen Okkupation wurde das Schulwesen nach europäischem Muster reformiert, ein Großteil des Eisenbahnnetzes gebaut und das Gesundheitswesen neu eingerichtet. Heute ist man in Bosnien immer noch beim Argument: Ohne uns wäre es noch schlimmer gewesen. Das Problem liegt beim Dayton-Vertrag, der die ethnische Teilung des Landes festgeschrieben hat. Was ist das für eine Logik? Man wollte einen Krieg beenden, indem man alle Ergebnisse des Krieges anerkannte - im Namen der Freiheit und des Friedens.

DIE FURCHE: Lässt sich der rassistische Nationalismus, der die Triebfeder des Krieges war, von oben autoritär ausrotten?

Karahasan: Aber selbstverständlich. Ganz Bosnien könnte an Einwohnern nicht eine Stadt wie Berlin ausfüllen - und man hatte im Zweiten Weltkrieg in Deutschland einen viel gefährlicheren Nazismus besiegt. Hier hingegen geht es um winzige Mafia-Gruppen, die im Namen ihrer Nationalität Geschäfte machen, und nicht um eine Großmacht, die man nicht besiegen könnte. Mir scheint, man will ein Experiment durchführen: wie der Staat zu privatisieren ist, wie man einen Staat zum Instrument der Mächtigsten machen kann.

Man hat das Werk der serbischen Nazisten anerkannt und nun sollen die Schöpfer dieses Werkes ganz schlimme Menschen sein? Seit zehn Jahren ist man nicht imstande, Karadžić und Mladić zu verhaften. Der Mann, der Granaten auf den Marktplatz von Sarajewo gefeuert hat, gilt heute noch als Verteidiger des Landes. Dieses Abkommen ist ein Albtraum für jeden denkenden Menschen.

DIE FURCHE: Manche führen das auf die Unkenntnis der Amerikaner zurück, die europäische Geschichte richtig zu lesen. Daher haben sie zwar dankenswerterweise den Krieg beendet, aber keine Konsequenzen daraus gezogen.

Karahasan: Und wie ist das Handeln der Europäer zu erklären? Die europäischen Politiker, auch diejenigen, die ich hochachte wie etwa Helmut Kohl, haben die Terminologie der Chauvinisten übernommen. Keine zwei Wochen nach Kriegsbeginn waren wir auch für die europäischen Politiker und Journalisten keine Menschen, keine Bürger mehr, sondern nur Serben, Kroaten und Muslime.

DIE FURCHE: Hat sich denn in den zehn Jahren seither gar nichts verändert?

Karahasan: Es hat sich nichts zum Besseren verändert. Die kulturelle Substanz des Landes wurde durch sehr konsequente nationale Aufteilung aller Institutionen weiter zerstört: Museen, Bibliotheken, Radio- und Fernsehsender - alles musste ethnisch getrennt werden. Die wenigen Firmen, die funktionsfähig sind, wurden auf äußerst verdächtige Art und Weise privatisiert: Sie wurden entwertet und dann im Grunde genommen verschenkt. Vor allem aber: Uns wurde die Vorstellung von der Zeit weggenommen. Ist Sarajewo angegriffen worden? Gab es Konzentrationslager? Eigentlich nicht - die Leute haben nur ihr Land verteidigt. Die Zensur verbietet es, die jüngste Vergangenheit beim Namen zu nennen. Ein Mensch aber, der ohne Sprache und Zeitvorstellung seine Vergangenheit nicht kennen darf, kann auch keine Zukunft entwerfen.

DIE FURCHE: Sie wissen, wie lange es in Deutschland und insbesondere in Österreich gedauert hat, bis man sich der NS-Zeit gestellt hat.

Karahasan: Die Nazi sind aber in Bosnien nicht besiegt worden, sondern sie sind jetzt noch ganz offiziell an der Macht! In Deutschland wurde die Naziideologie nach dem Krieg geächtet, man hat die Hauptverantwortlichen verurteilt. Bei uns sind die Nazibarbaren belohnt worden. Sollte es in Bosnien noch zehn Jahre so weitergehen, dann wird es kein Bosnien mehr geben.

DIE FURCHE: Wenn wir das Gespräch an dieser Stelle beenden, verfalle ich in Depressionen. Gibt es für Sie irgendwelche realistische Aussichten auf Besserung? Was soll nach Ihrer Vorstellung jetzt geschehen?

Karahasan: Das kann ich Ihnen sagen. Man sollte einem kleinen europäischen Land - etwa Belgien, Österreich, den Niederlanden - volle Verantwortung für Bosnien übertragen. Eine Gruppe von Spezialisten soll mit klar definierten Fristen und Aufgaben das Land in den folgenden 15 Jahren verwalten. Dazu schafft man einen Rat von angesehenen Intellektuellen. Es gibt Persönlichkeiten, die von allen Volksgruppen ernst genommen werden.

DIE FURCHE: Wie schaut die kulturelle Landschaft aus - sind Bücher, Theater machtlos oder zur Untätigkeit verdammt?

Karahasan: Ich habe versucht, im Nationaltheater von Sarajewo zu arbeiten. Vom Theater erwartet man derzeit nur Boulevardkomödien, niemand will sich mit der Wirklichkeit befassen. Wenn ich in meinem eigenen Schicksal nichts bewirken kann, wenn ich kein öffentliches Anrecht auf Erinnerung habe, dann werde ich auf einen toten Gegenstand reduziert, der nur im Jetzt lebt und sich unterhält.

DIE FURCHE: Welche Rolle spielen die Religionen? Bosnien war ein Modell des multireligiösen Zusammenlebens. Hat das noch Chancen?

Karahasan: Bosnien war ein kleines Andalusien und könnte es vielleicht wieder werden. Aber die Religionen haben in Bosnien zuletzt keine rühmliche Rolle gespielt. Ist es nicht merkwürdig, dass alle Religionsgemeinschaften aus dem Krieg wesentlich reicher hervorgegangen sind? Einerseits haben die religiösen Gruppen vieles zurückbekommen, was ihnen unter dem Kommunismus weggenommen worden war. Anderseits hat die Welt wirklich versucht, Bosnien nach dem Krieg zu helfen. Viel Geld ist geflossen, viel davon ging über die Kirchen und vieles blieb bei den Kirchen. Nur die bosnischen Franziskaner sind ärmer als zuvor. Es gibt in Sarajewo eine Abrahamsgesellschaft mit Vertretern aus allen Religionen. Es gibt einen multireligösen Chor. Es gibt einen harten Kern des wahren Bosnien, der durch seine Ausstrahlung imstande wäre, vieles zu heilen. Aber diese Kräfte finden weder bei den Okkupatoren noch bei den Marionetten-Regierungen irgendwelche Unterstützung. Ich wette, dass selbst in Banja Luka immer noch die Hälfte der Bewohner keine Nationalisten sind. Sie kommen aber nicht zu Wort. Viele von ihnen sind einfach Karrieristen, denn noch profitiert man gewaltig von einer chauvinistischen Rhetorik.

Letzter Länderschwerpunkt:

Österreich - am 13. Mai in der FURCHE.

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