Die Büchse der Pandora

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Die Auswirkungen des NATO-Einsatzes in Jugoslawien auf das internationale System, auf die Stellung von UNO, NATO und anderen Organisationen aber auch auf die zwischenstaatlichen Beziehungen sind noch nicht absehbar; sie werden jedenfalls gravierend sein.

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Die Auswirkungen des NATO-Einsatzes in Jugoslawien auf das internationale System, auf die Stellung von UNO, NATO und anderen Organisationen aber auch auf die zwischenstaatlichen Beziehungen sind noch nicht absehbar; sie werden jedenfalls gravierend sein.

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Was sind die Luftangriffe der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien eigentlich? Der Golfkrieg wurde angesichts des UNO-Mandats nicht als "Krieg", sondern als internationale Polizeiaktion gegen den Irak, der mit dem Einmarsch in Kuwait eindeutig gegen die Charta der Vereinten Nationen verstoßen hatte, bezeichnet. Im Fall des Kosovo war und ist eine derartige Legitimation durch die UNO nicht gegeben. Welche Auswirkungen die NATO-Aktion auf die bündnisinterne Debatte über die allfällige Notwendigkeit einer Mandatierung eines Einsatzes durch den UNO-Sicherheitsrat hat, wird spätestens beim bevorstehenden NATO-Gipfel in Washington klar werden. Das neue strategische Konzept wird jedenfalls Aufschluß darüber geben, in welchem Ausmaß Out-of-area-Einsätze noch an ein "placet" der UNO gebunden sein werden.

Obwohl keines der 19 NATO-Mitglieder der Bundesrepublik Jugoslawien offiziell den Krieg erklärt hat, stellt sich die Frage, ob nicht der Angriff auf einen souveränen Staat de facto als Kriegseintritt zu bewerten ist. Bemerkenswerterweise hat auch die Bundesrepublik Jugoslawien den Angriff nicht zum Anlaß genommen, um den NATO-Staaten offiziell den Krieg zu erklären. Die Frage Krieg oder internationale Polizeiaktion ist nicht zuletzt deshalb von Bedeutung, weil die (begleitende und nachträgliche) völkerrechtliche Legitimation des Militäreinsatzes als Kampf gegen massive Menschenrechtsverletzungen und/oder Völkermord jenen Präzedenzfall einigermaßen definieren wird, den die 19 Staaten der westlichen Allianz nunmehr geschaffen haben. Dies gilt umso mehr, als an den Angriffen auf Jugoslawien mit der Türkei zumindestens auch ein Staat beteiligt ist, der sich im eigenen Land im Kampf gegen den "kurdischen Terrorismus und Separatismus" zweifellos erhebliche Verletzungen der Menschenrechte zuschulden kommen hat lassen.

Hinzu kommt, daß bei der Güterabwegung zwischen der Unverletzbarkeit der Grenzen und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker wohl zum ersten Mal seit der Gültigkeit beider Prinzipien eindeutig dem Selbstbestimmungsrecht der Vorrang eingeräumt worden ist, obwohl der angestrebte endgültige Status des Kosovo nach wie vor von Europa nicht definiert worden ist. Kurden, Tschetschenen, Tibeter, aber auch vielleicht die Korsen oder nationale Minderheiten in Mittel-Osteuropa oder etwa die bosnischen Serben werden möglicherweise in nicht all zu ferner Zukunft jene Argumente wiederholen, die derzeit zur Rechtfertigung des Militäreinsatzes vorgebracht werden.

Das Fehlen eines UNO-Mandates stellt nicht nur die Frage nach den völkerrechtlichen Implikationen, sondern hat zweifellos den Sicherheitsrat geschwächt. Das 1945 geschaffene internationale System, das während des Kalten Krieges nicht funktionierte (Veto), erwies sich auch zehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer als nur beschränkt tauglich zum Aufbau einer "neuen Weltordnung". Schonungslos offengelegt wurde aber auch, wie gering der Einfluß Rußlands auf Entwicklungen in Europa geworden ist. Die antiwestlichen Ressentiments in Rußland, die bereits vor der NATO-Aktion in beträchtlichem Ausmaß vorhanden waren, haben durch die jüngsten Ereignisse neue Nahrung erhalten - ein beunruhigender Umstand angesichts der herbstlichen Parlamentswahl, die weitgehend als Vorspiel für die anschließende Präsidentenwahl zu betrachten ist. Die Anbindung Rußlands (und der Ukraine) an Europa und die Einbindung in eine allfällige Friedensregelung für den Kosovo sind daher unverzichtbar zur Bewahrung der Stabilität auf dem eurasischen Kontinent. Diese Erkenntnis ändert nichts an der Tatsache, daß Rußlands Außenpolitik im Falle Jugoslawiens versagt hat. Eingestanden wird dies auch von russischen Diplomaten in Wien, die es im vertraulichen Gespräch als Fehler bezeichnen, daß sich Rußland in Geiselhaft Milosevi'cs begeben und im Sicherheitsrat eine bedingungslose Veto-Politik betrieben habe.

"Die letzte freie Entscheidung, die ein Feldherr treffen kann, ist in einen Krieg einzutreten. Alles, was dann folgt, ist ein System von Aushilfen." Diese Erkenntnis des älteren Moltke (1800-1891) gilt auch für die NATO, deren militärische Führung nun eine Operation durchführen muß, die von der politischen Führung zweifellos zu spät angeordnet wurde, weil durch die weiteren Verhandlungen nach dem Scheitern von Rambouillet Milosevi'c ausreichend Zeit gegeben wurde, den militärischen Aufmarsch für die Operation "Hufeisen" zu beenden, obwohl deren Grundzüge bereits Anfang Februar feststanden. Genannt wurde die Operation deshalb so, weil der Kosovo hufeisenförmig umschlossen werden sollte, um die Massenvertreibung der Albaner nach Albanien und in geringerem Ausmaß nach Mazedonien durchführen zu können. Zumindest die politische Führung der NATO hat die Entschlossenheit Milosevi'cs und die humanitäre Katastrophe unterschätzt und die Wirkung der Luftangriffe überschätzt. Zusätzlich geschwächt wurde die Position der NATO dadurch, daß die politische Führung entgegen den Wünschen der militärischen Führung eine Bodenoperation stets ausgeschlossen und auch keine "Exit-Strategie" formuliert hatte.

Daß es trotz all dieser Mängel dann doch zu einem NATO-Einsatz kam, lag daran, daß - abgesehen von der gefährdeten Glaubwürdigkeit der Allianz - eine Eskalation in dieser Region zu einer Konfrontation zwischen den NATO-Staaten Griechenland und Türkei hätte führen können.

Der Erfolg des Einsatzes ist für das Bündnis jedenfalls zur politischen Überlebensfrage geworden. Ein Scheitern der Mission würde die Stellung der NATO als Anker für eine künftige europäische Sicherheitsarchitektur massiv in Frage stellen. Dies träfe die EU zu einem Zeitpunkt, in dem die geplante Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität (ESVI) innerhalb der NATO an Gestalt gewinnt, und in dem Deutschland durch seinen Kampfeinsatz endgültig die Fesseln der Nachkriegszeit abzustreifen beginnt.

Die NATO-Operation gegen Jugoslawien verändert das internationale System und betrifft alle europäischen Akteure. Angesichts der unnachgiebigen Haltung Jugoslawiens und der menschlichen Tragödie blieb dem Westen (der NATO) keine Alternative. Zu hoffen bleibt jedoch, daß die Verantwortlichen berücksichtigt haben, was Bismarck folgendermaßen formuliert hat: "Es ist leicht für einen Staatsmann ..., mit dem populären Winde in die Kriegstrompete zu stoßen und sich dabei an seinem Kaminfeuer zu wärmen ... Es ist nichts leichter als das, aber wehe dem Staatsmann, der sich in dieser Zeit nicht nach einem Grunde zu Kriegen umsieht, der auch nach dem Kriege noch stichhaltig ist."

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