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Die christlich-soziale Idee

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Die Frage: Hat die christlich-soziale Idee noch Bedeutung, war noch nie-pials so berechtigt als gerade in unseren Tagen. Heute gehen die Wellen um die Enzyklika Papst Pauls VI., „Populorum progressio“, hoch. Hatte schon „Mater et magi-stra“ rege Diskussdon ausgelöst, so ist das Echo von „Populorum progressio“ geradezu epochemachend. Die Diskussion geht von der äußersten Linken bis zur äußersten Rechten. Wenn man bedenkt, daß die früheren Enzykliken der Päpste kaum beachtet, ja bewußt totgeschwiegen wurden, so ist das Phänomen dieser lebendigen Diskussion wohl sehr beachtlich. Dabei (st noch ein weiteres zu beachten: Die christliche Soziallehre wird seit mehr als 75 Jahren in den Enzykliken „Rerum novarum“ Leos XIII., „Qua-dragesimo anno“ Pius' XI., den Enunziatdonen zu sozialen Fragen Pius' XII., „Mater et magistra“ Johannes' XXIII. und schließlich „Populorum progressio“ Pauls VI. verkündet.

Was ist von diesen Enzykliken verwirklicht worden? Machen den Katholiken die Gegner nicht mit Recht den Vorwurf, daß sie wohl Theorien verkündet, aber sie praktisch nicht verwirklicht haben? Vor einer Beantwortung sind jedoch zwei Fragen zu klären: 1. Was ist, was will, was kann die christliche Sozial-lehre? 2. Wie stellt sich uns die historische Situation dar?

Es ist eine falsche Auffassung, wenn man unter der christlichen Soziallehre etwa eine Art Kodex mit genauen Richtlinden für das Tun des einzelnen und der Gesamtheit sehen würde. Der bekannte Soziologe Nell-Breuning sagt, die christliche Soziallehre sei ein Gefüge von offenen Sätzen, das besagt aber wiederum, daß sie neuen Tatsachen aufgeschlossen gegenübersteht und neue Entwicklungen zur Kenntnis nimmt. Sie will immer wieder dazulernen, sich den Zeltverhältnissen anpassen. Es steckt in ihr der von Johannes XXIII. geprägte Begriff „Aggiornamento“.

Es ist aber auch klar, daß es Grundwahrheiten gibt, die nicht variabel sind und von denen nicht abgewichen werden kann, weil sie der Offenbarung Gottes entspringen. Kennzeichnend für sie ist das menschliche Ordnungsbild, von dem sie ausgeht und von dem sie auch ihre Ordnungsvorsteilung von der menschlichen Gesellschaft gewinnt: die Menschenwürde, den Menschen als Persönlichkeit und als unwieder-holbare und unverwechselbare Erscheinung, der in unmittelbarer und unvertretbarer Selbstverantwortung vor Gott steht. Er beruht aber nicht nur auf seinem Ich, sondern auch auf dem Du; denn, er ist geschaffen im Zusammenleben mit anderen in der Gesellschaft. Diese aber ist nicht Selbstzweck, sondern hat dem Menschen zu dienen. Daher gerät die christliche Soziallehre in Widerspruch sowohl mit dem Individualismus als auch mit dem Kollektivismus; sie gründet auf dem Naturrecht.

Wie war nun die historische Situation, welche die christliche Soziallehre vorfand? Im Feudalsystem gab es eine Geborgenheit der Untertanen bei ihrem Dehensherren, damit eine gewisse Sicherheit vor den Fährnissen des Lebens. Heute würden wir mit einem modernen Terminus tech-nicus sagen: Es herrschte das Für-Borgeprdnzip vor.

Der Liberalismus kannte keine Bindungen, sondern sein oberstes Prinzip war die absolute Freiheit. Gerade in diese Zeit fällt der Beginn der industriellen Revolution. Sie auf der einen und der absoluten Freiheitsbegriff auf der anderen Seite führten zu den Notständen der arbeitenden Menschen, die ein Eingreifen des Staates notwendig machten. Leider schwieg die Kirche zu diesen Notständen allzulange. Die Enzyklika „Rer m novarum“ Leos XIII. kam spät, da inzwischen der Marxismus gerade unter der Arbeiterschaft Wurzel gefaßt hatte.

Erst die Zeit nach 1945 bringt im allgemeinen, aber besonders auch in Österreich Änderung. Das Zweite Vatikanische Konzil ist von Weltoffenheit und Aufgeschlossenheit erfüllt. Daher sind die Enzykliken der Konzilpäpste Johannes XXIII. und Paul VI., „Mater et magistra“ und „Populorum progressio“, aus dieser Zeit geboren. Aber beide Enzykliken sind deshalb anders, weil „Populorum progressio“ ihrerseits wieder „Mater et magi-tra“ fortentwickelt, obwohl nur sechs Jahre zwischen den beiden Enzykliken liegen. Nunmehr hat die Kirche ihre Basis, den realen Boden, gefunden. Trotzdem: Die Kirche kann nur Richtlinien geben, also sagen, was richtig ist, verwirklichen aber müssen diese Grundsätze die Christen, die in der Welt, in der Öffentlichkeit stehen.

Die Frage, die sich uns aus der christlichen Soziallehre stellt, ist nun die: Haben wir im ausgehenden 20. Jahrhundert den richtigen Weg gefunden? Haben wir das befriedigende Verhältnis des einzelnen zur Gemeinschaft und haben wir den Standort des einzelnen in der Gemeinschaft gefunden? Haben wir weiter das Verhältnis der Gemeinschaften untereinander gelöst, in einer Zeit, in der wir mit Recht von einer Piuralität unserer Gesellschaft sprechen? Haben wir dieses Verhältnis nach dem Subsidiaritäts-prinzip gelöst und ihm Rechnung getragen?

Ein weiteres Problem: Es gab einmal eine Freiheit, die unbeschränkt und unbeschränkbar war, dafür gab es aber in ihr keine Sicherheit. Der Osten hat ein System entwickelt, in dem es bis zu einem gewissen Grade Sicherheit gibt, aber auf Kosten der Freiheit. Entspricht es aber nicht der Auffassung christlicher Soziallehre, daß es für den Menschen sowohl ein bestimmtes Maß an Freiheit als auch Sicherheit geben muß? Christlicher Soziallehre liegt die Auffassung zugrunde, daß dem Menschen bebestimmte Grundrechte von Natur aus zustehen, die sich aus der Vernunft erkennen lassen und die ihm von niemandem genommen werden dürfen, auch nicht vom Staat.

Welcher Wandel sich in der Auffassung über die Grundrechte des Menschen ergibt, mag aus dem Eigentumsrecht erkenntlich sein. Unser Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch kennt noch im 354 den absoluten Eigentumsbegriff. Dieser ist aber im Laufe der Zeit immer mehr dadurch ausgehöhlt worden, daß die Ausübung des Eigentumsrechtes immer größeren Einschränkungen unterworfen wurde. Es ist auch verständlich, denn nicht nur wird die Welt immer kleiner, sondern auch die Menschen rücken immer mehr aneinander. Ihre Dichte wird immer größer, daher kann sich der einzelne nicht mehr entwickeln, wie er will, ohne den Nächsten einzuschränken. Er kann nicht immer größeres Eigentum anhäufen, ohne den Nächsten zu beschränken. Es wächst daher das Rücksichtnehmen auf dien anderen immer mehr.

Müssen wir nicht darüber nachdenken, ob Eigentum im Industriezeitalter nicht der Mobilität des einzelnen hinderlich ist? Etwa durch ein Familienhaus, durch die Eigentumswohnung und anderes? Kommt die Produktion zu den Arbeitern oder müssen die Arbeiter der Produktion folgen? Ein typisches Beispiel für diese Problematik ist die Stillegung der Rax-Werke in Wiener Neustadt. Wieweit ist das Pendlerproblem eine Auswirkung des industriellen Zeitalters und wieweit ist das Zurücklegen von bestimmten Wegstrecken dem arbeitenden Menschen noch zumutbar? Ist ihm zumutbar, daß er längere Zeit von seiner Familie getrennt lebt? Also Fragen von eminent praktischer und politischer Bedeutung, die sich aber ohne große Schwierigkeiten aus der christlichen Soziallehre lösen lassen, denn sie nimmt sowohl Rücksicht auf die wirtschaftlichen Notwendigkeiten als auch auf die sozialen Verhältnisse des Menschen. Christliche Soziallehre kennt daher keine Extreme, weder nach der einen noch nach der anderen Richtung, sondern im Vordergrund steht der soziale Ausgleich.

Es ist daher die heutige Vermögensverteilung ein himmelschreiendes soziales Unrecht. Es ist heute so, daß immer neues Vermögen dorthin fließt, wo bereits Reichtum besteht, aber die Masse muß sich, wenn auch mit einem bestimmten, allerdings bereits fühlbar höher gewordenen Minimum begnügen. Das soll nicht bedeuten, daß nivelliert werden soll, sondern es geht um eine gerechte Vermögensverteilung, auch durch staatliche Maßnahmen, etwa durch die Steuerpolitik oder ein Vermögensbdldungs-gesetz der Arbeitnehmer im Betrieb.

Oder: die notwendige Neuordnung der Arbeit. Wir brauchen eine neue Unternehmensverfassung, die Verankerung der Subjektstellung des Arbeitnehmers im Betrieb durch Mitbestimmung im Rahmen des Möglichen, Teilnahme der Arbeitnehmerschaft an den unternehmerischen Entscheidungen. Der bereits zitierte Soziologe Nell-Breuning hält die Mitbestimmung grundsätzlich für berechtigt. Wir brauchen aber auch die Verankerung der Beteiligung am Ertrag nach Stellung, nach Leistung und Verantwortung im Betrieb; eine Situation, die der Hirtenbrief der österreichischen Bischöfe 1956 unter dem Begriff der sozialen Partnerschaft versteht, nämlich das Mitdenken, Mitverantworten, aber auch das Mitverdienen.

Die Sozialisten reklamieren heute die Sozialenzyklika Pauls VI. für sich, ja selbst Kommunisten und kommunistische „Katholiken“ sprechen von einem christlichen Marxismus. Es ist aber noch nicht lange her, da spotteten die gleichen Kreise, sie versuchten sie herunterzusetzen und machten sie, wo es ging, lächerlich. Ja, ist nicht bereits der Ausdruck christlicher Marxismus ein Widerspruch in sich? Karl Marx ist alles andere als christlich, und umgekehrt, die christliche Lehre ist alles andere als marxistisch.

Bei jeder Gemeinschaft kommt es auf den Ausgangspunkt an, ob sie bei ihm verbleibt, ob sie sich zu dem Ziel bekennt, um dessen Erreichung sie ausgezogen ist. Verläßt sie dieses Ziel, dann verliert sie ihre Daseinsberechtigung, weil sie sich selbst aufgibt und unglaubwürdig wird. Die Entwicklung in den vergangenen 200 Jahren ging von der These (Liberalismus) zur Antithese (Kollektivismus). Heute erleben wir die Synthese im Personalismus.

Die Enzyklika .,Populorum progressio“ ist ein Beweis dafür, daß die christlich-soziale Ide: lebt und mehr denn je Bedeutung hat. Denn das Echo, das sie ausgelöst hat, ist bisher noch nicht dagewesen. In einer Zeit, in der sich alles in Fluß befindet, ist die christliche Soziallehre der Leuchtturm für das Schiff der menschlichen Gesellschaft in dunkler Nacht, das den rettenden Hafen erreichen will. An dem Menschen selber und den politischen Führern im besonderen liegt es, zu ihrer Verwirklichung beizutragen.

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