"Die Evangelien wurden sehr früh verfasst"

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Wann wurden die Evanglien verfasst? Diese Frage ist nach wie vor heftig umstritten. Viele Theologen setzen die Abfassung der Schriften erst nach der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 an. Der Papyrologe Thiede sieht das aufgrund der Auswertung der Qumran-Funde anders.

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Wann wurden die Evanglien verfasst? Diese Frage ist nach wie vor heftig umstritten. Viele Theologen setzen die Abfassung der Schriften erst nach der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 an. Der Papyrologe Thiede sieht das aufgrund der Auswertung der Qumran-Funde anders.

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die furche: 1947 stieß man zufällig auf sensationelle Schriftrollenfunde in den Höhlen von Qumran. Welche Erkenntnisse brachte das für die Bibelwissenschaften?

Carsten Peter Thiede: Das wichtigste Ergebnis durch die Funde von Qumran ist die Zuverlässigkeit der Überlieferung des Alten Testaments. Man hat nun den Beleg, dass die Inhalte der biblischen Schriften über viele Jahrhunderte mit erstaunlicher Präzision weitergegeben wurden. Bis dahin hatte man sich auf Abschriften aus dem zehnten, elften nachchristlichen Jahrhundert verlassen müssen. In Qumran waren nun Rollen aus dem dritten und zweiten Jahrhundert vor Christus aufgetaucht, also über 1.200 Jahre ältere Handschriften. Für Leser des Neuen Testaments ist allerdings die wichtigste Erkenntnis, die von diesen Funden bestätigt wird, dass Jesus sich in vielem, was er sagte, auf das Denken, das Hoffen und die Erwartungen der Juden seiner Zeit stützten konnte.

die furche: Sie vertreten die These, dass die Evangelien schon zwischen 45 und 62 n. Chr. verfasst worden sind. Was führt Sie zu dieser Frühdatierung?

Thiede: Zunächst möchte ich den Begriff "Frühdatierung" kritisch unter die Lupe nehmen. Wenn wir bei einer Handschrift um 70 n. Chr. von einer Frühdatierung sprechen, ist das in Wirklichkeit eine Spätdatierung. Zwischen dem Entstehen des Originals und einer aus 68 n. Chr. überlieferten Handschrift würden immerhin noch rund 25 Jahre liegen. Das war für antike Verhältnisse die Lebenserwartung eines normalen Berufstätigen. Etliche Forscher sind sich heute einig, dass wir das ganze Koordinatensystem der Datierung der Handschriften verschieben müssen. Wie man an den Qumranfunden feststellen konnte, wurden gerade in Gemeinschaften mit einer starken endzeitlichen Hoffnung Texte und Abschriften rasch angefertigt, um noch möglichst viele an der Verheißung teilhaben zu lassen. Diese Mentalität gilt auch für die Verfasser der Evangelien. Sie waren nicht Ergebnis einer zweiten enttäuschten Generation, sondern die unmittelbare Handlung der ersten Generation, die so schnell wie möglich daran ging, ihre Botschaft vom Messias Jesus zu verbreiten.

die furche: Gibt es papyrologische Funde, die Ihre These untermauern?

Thiede: Wir haben ein Schriftrollenfragment aus der Höhle 7 von Qumran dank papyrologischer Analysen als eine Stelle aus dem sechsten Kapitel des Markus-Evangeliums identifizieren können. Das ist deshalb spannend, weil die Höhlen nachweislich 68 n. Chr., als die Siedlung von den Römern erobert wurde, verschlossen worden sind. Trotzdem möchte ich hinzufügen, daß die Funde von Papyri allein nicht ausschlaggebend sein können. Sie geben uns nur das spätest mögliche Datum an. Es bleibt immer noch die Frage offen: Wann ist das Original entstanden? Der jüdische Wissenschaftler Günther Zuntz etwa tritt dafür ein, dass das Markus-Evangelium um 40 n. Chr. entstanden sein muss. Schon in den siebziger Jahren hat der britische Theologe und Neutestamentler John A.T. Robinson behauptet, alle Texte des Neuen Testaments müssten vor dem Jahr 70 entstanden sein. Heute kommen viele Historiker, Altphilologen und auch Theologen zu der Erkenntnis, dass Robinson in vielem Recht gehabt hat.

die furche: Kann man die Evangelien überhaupt als historische Quellen ernst nehmen? Steht nicht der Glaube oder die literarische Aufmachung im Vordergrund?

Thiede: Es gibt praktisch keine antike Geschichtsschreibung, die ohne einen "Glauben" im weitesten Sinne auskäme. Bei Titus Livius etwa ist es der Glaube daran, dass die Römer das größte Volk der Weltgeschichte sind. Aus diesem Glauben heraus schreibt er seine Geschichte. Natürlich ist das eine Tendenz. Selbst nüchterne Altertumswissenschaftler haben aber kein Problem damit, solche "Glaubens"-Fragen auch in die geschichtliche Analyse hinein zu nehmen. Die Tendenz der Evangelien lautet: Wir glauben, dass sich in Jesus alles erfüllt hat, was jemals in den prophetischen Schriften stand. Kein antiker Zuhörer hätte ihnen deshalb ihre geschichtliche Glaubwürdigkeit abgesprochen. Was die literarische Verarbeitung betrifft: Es handelte sich bei allen vier Autoren um kreative Köpfe, die Geschichtsschreibung, wie auch wir heute, nicht zuletzt als literarische Kunst verstanden. Sie wollten Geschichte so vermitteln, dass sie lesbar und anhörbar war. Wenn Ereignisse heute journalistisch oder literarisch aufbereitet werden, hören sie deswegen ja auch nicht auf, historisch zu sein, oder?

die furche: Viele Neutestamentler nehmen aber an, dass die Evangelien nicht von Zeitgenossen Jesu verfasst wurden...

Thiede: Wer als Theologe der Auffassung ist, dass Jesus nur ein besonderer Mensch ohne übernatürliche Gaben, geschweige denn der Messias oder der Sohn Gottes war, muss zu dem Schluss kommen, dass Jesus keine wahrhaften Prophezeiungen machen konnte - etwa die Zerstörung des Tempels im Jahre 70. Er argumentiert dann: Diese Worte wurden Jesus von den Schreibern nachträglich in den Mund gelegt, als die Zerstörung des Tempels bereits stattgefunden hatte. Das hat meiner Ansicht nach nichts mehr mit Wissenschaft zu tun, sondern mit Weltanschauung und Vorurteil.

die furche: Steht mit der Frühdatierung nicht auch die Zwei-Quellen-Theorie in Frage, dass Markus das erste Evangelium schrieb und Lukas und Matthäus ihn und die sogenannte Sammlung der "Jesusworte" als Vorlage benutzen konnten?

Thiede: Diese Theorie ist natürlich stark in Fluss geraten. Je früher die Texte geschrieben worden sind, desto weniger Platz gibt es für zusätzliche Quellen. Der Bischof von Hierapolis, Papias, wusste noch um 110 n. Chr., dass es im Kreis der ersten Jünger wenigstens eine Quelle gegeben hat, die unmittelbar beim Auftreten Jesu vermutlich in Kurzschrift mitgeschrieben wurde. Diese Mitschrift nennt er "logia", griechisch "Sprüche, Worte, Reden". Er schreibt diese "logia" dem Matthäus zu. Von Lukas wissen wir, dass es auch andere Quelltexte aus dem ersten Kreis der Hörer Jesu gab. Das wurde natürlich weitergegeben, untereinander ausgetauscht, und auch die Evangelisten schöpften daraus und verarbeiteten.

die furche: Glauben Sie, dass ein fünftes Evangelium auftauchen wird?

Thiede: Angenommen, man fände heute eines, so stünde es neben Dutzenden von anderen "Evangelien", die nicht ins Neue Testament aufgenommen worden, aber längst bekannt sind, etwa ein "Petrus"- oder ein "Jakobus"-Evangelium. Fast jedem Apostel ist irgendwann ein Evangelium zugeschrieben worden. Das kommt daher, dass man im zweiten, dritten Jahrhundert n. Chr. darangegangen war, Geschichten um Jesus weiterzuspinnen. Man hielt die Evangelien für zu nüchtern, zu faktisch, zu knapp und man wollte doch von der Wiege bis zur Bahre alles wissen. So entstanden nicht-kanonische Evangelien, deren Inhalte später besonders in die Volksfrömmigkeit eingegangen sind. Erstaunlicherweise hat es von Anfang an zu den vier Evangelien nie eine echte Konkurrenz gegeben. Bei den Briefen hat es hingegen sehr wohl einen längeren Selektionsprozess gegeben.

die furche: Die Trennung zwischen dem Jesus der Geschichte und dem Christus des Glaubens entstammt der protestantischen Bibelforschung des 19. Jahrhunderts. Sie, als Altertumsforscher und bekennender Anglikaner, halten diese Trennwand für überholt. Wird sich die Kluft wieder schließen?

Thiede: Es wäre schön, wenn das so wäre. Der protestantische Ansatz wurde überzogen und zu meinem Bedauern mit etwas zu großer Begeisterung nach dem Zweiten Vatikanum von den katholischen Forschern nachgeahmt. Erfreulicherweise korrigiert sich das zur Zeit. Es gibt aber keinen Christus des Glaubens ohne den Jesus der Geschichte. Und umgekehrt: Es wäre kein Jesus der Geschichte ohne den Christus des Glaubens.

die furche: Welchen Beitrag kann die moderne Bibelforschung zur Ökumene leisten?

Thiede: Die große Chance liegt darin, dass Bibelforschung gerade heute, wenn sie offen ist für Erkenntnisse der Altertumswissenschaften konkret sagen kann, dass das Christentum in seinen Ursprüngen und seiner frühen Geschichte eins war. Die Spaltungen und Schismen sind Unglücksfälle der Kirchengeschichte, von den ältesten Texten aber weder vorausgesetzt noch gewollt. Im Gegenteil: Sie sind überwindbar, wenn man zu den Anfängen der Verkündigung zurückkehrt.

Das Gespräch führte Susanne Kummer.

Zur Person: Altertumsforscher, der in Emmaus gräbt Carsten Peter Thiede ist Historiker und Papyrologe und lehrt Neutestamentarische Geschichte an der STH Basel. Er ist Leiter der Schadensanalyse der Schriftrollen von Qumran. Mit seinem Buch "Der Jesus-Payprus" (Luchterhand 1996) erregt der 52-Jährige, aus Berlin gebürtige Wissenschafter international Aufsehen. "The Dead Sea Scrolls and the Jewish Origins of Christianity" (Oxford, Lion 2000) wird bis Herbst auf Deutsch im Kreuz-Verlag, Stuttgart, herauskommen.

Derzeit arbeitet Thiede gemeinsam mit der Israelischen Antikenbehörde an der archäologische Ausgrabung der biblischen Stadt Emmaus. Weiters untersucht er die Echtheit der in Rom aufbewahrten Kreuzesreliquien. Thiede erhielt dafür eine Spezialerlaubnis des Vatikans.

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