Die ganz reale Fantasy

Werbung
Werbung
Werbung

Fantasy-Literatur greift mythische und religiöse Strukturen auf und bietet Spielräume für Kreativität und eindeutige Lösungsstrategien.

Tausende Kids harren die Nacht über vor den Buchhandlungen aus, weil der neue Harry Potter erscheint. Als der "Herr der Ringe" in die Kinos kommt, sind die Vorstellungen über Wochen schon im Vorhinein ausverkauft. In passendem Outfit und unter Verwendung fantastischer Pseudonyme wallfahrten begeisterte Fans zum großen Tolkien-Thing, das die Deutsche Tolkiengesellschaft einmal im Jahr veranstaltet. Harry Potter wurde fast über Nacht zum "Kult", am "Tolkien-Mythos" wird bereits seit den sechziger Jahren enthusiastisch gewebt.

Dass sich zum Start großer Kino-Epen die Kaufhausregale mit Devotionalien füllen, Begleitbücher, Computerspiele und ähnliches auf den Markt geworfen werden, die keineswegs nur Kinder und Jugendliche faszinieren, gehört zum Merchandising nahezu aller für diese Zielgruppe produzierten Filme und ist keineswegs auf Fantasy beschränkt. Und was wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts nicht alles zum "Mythos" erklärt oder hat "Kultstatus" erlangt!

Gegenwelten

Dennoch scheint die Fantasy in diesem Kontext eine besondere Rolle einzunehmen. Wenn andere "Mythen des Alltags", wie etwa Pop-Ikonen oder Filmstars, ganze Pilgerscharen anlocken und Massenhysterien auslösen, so handelt es sich dabei um reale Personen des öffentlichen Lebens und nicht, darin liegt eine erste Irritation, um fiktive Figuren. Zum zweiten sind Erzählformen und Weltentwürfe der Fantasy weitaus mehr als die der benachbarten - und nicht immer klar abzugrenzenden - Genres Science Fiction und Horror von archaischen, um nicht zu sagen: mythischen Strukturen geprägt. Während in der Science Fiction Abweichungen von der Realität des Lesers (natur-)wissenschaftlich, etwa aufgrund technologischer Innovationen, begründet werden, kennt die Fantasy eigene Gesetzmäßigkeiten (insbesondere Magie), die oft vormodernen Vorstellungen entstammen. Die dem Genre Horror zuzurechnenden Texte und Filme wiederum beziehen ihren Thrill aus dem unvorhersehbaren Einbruch parapsychologischer oder okkulter Phänomene in die bis dahin eher beschauliche Alltagswelt der Protagonisten. Wenn Fantasy hingegen, wie beispielsweise bei Harry Potter, eine über die sichtbare Welt hinausreichende Wirklichkeit imaginiert, dreht sich die Handlung um das Hineingelangen in diese positiv konnotierte Gegenwelt, die, wie Tolkiens "Mittelerde", aber auch gänzlich eigenständig sein kann.

Nicht restaurativ

Mythische Strukturen und Magie, Bezüge auf ein Weltverständnis der Vormoderne und vor allem die Entwürfe von Gegenwelten sind fantasy-typische Charakteristika, die manchen Merkmalen von Religion auffallend nahe kommen. Nicht von ungefähr haben christliche Fundamentalisten weltweit die Lektüre von Harry Potter aufgrund der darin angeblich verbreiteten Ermutigung zu Magie und Okkultismus zu verbieten gesucht und sind sogar - so in New Mexico - zu Bücherverbrennungen geschritten. Während derartiges freilich als Beispiel für einen absurde Formen annehmenden Fanatismus gelten kann, sind Vorwürfe wie der, dass Fantasy zu einer "eskapistischen Weltflucht" animiere, durchaus häufiger zu hören, besonders im Hinblick auf Rollenspiele, in denen Spielergruppen gemeinsam eine in einer Fantasy-Welt stattfindende Geschichte ausfantasieren. Beide Argumentationen nehmen eine implizite Gleichsetzung von Fantasy und Religion, allerdings aus entgegengesetzter Perspektive, vor: Auf der einen Seite zählt der Eskapismusvorwurf seit Feuerbach zu den Gemeinplätzen der modernen Religionskritik, die zwischen der Fiktionalität fantastischer Erzählungen und religiösen Vorstellungen keinen Unterschied mehr zu ziehen bereit ist - hier fällt alles dem Verdacht der Projektion anheim. Wenn andererseits der religiöse Fundamentalismus Fantasy als "Satanswerkzeug" einstuft, so bildet er die dualistische Grundstruktur von Gut und Böse, die dem fiktiven Weltbild der Fantasy stets zugrunde liegt, auf die Wirklichkeit ab. Darin jedoch entlarvt sich weit mehr die antimoderne Ausrichtung fundamentalistischer Strömungen, die vormoderne Weltbilder unhinterfragt reproduzieren, als die des Genres Fantasy, das den Rückgriff auf vormoderne Strukturen nicht in restaurativer Absicht vornimmt, sondern vielmehr dazu nutzt, um auf dieser Folie moderne Entfremdungskonflikte zu thematisieren.

Kritik an der Moderne

Die Aufgaben ("Questen"), die die Helden der Fantasy-Erzählungen zu bewältigen haben, sind - das unterscheidet Fantasy vom Märchen, dem sie in vielem verwandt ist - stets mit der Lösung eines gesamtgesellschaftlichen Konflikts verbunden: Fortbestand oder Untergang eines Kollektivs, wenn nicht gar des ganzen Fantasy-Kosmos hängen von ihrem Gelingen oder Scheitern ab. Der Erfolg ist dabei keineswegs garantiert. Denn trotz des fantasy-typischen Gut-Böse-Dualismus sind die Protagonisten mitnichten durch unantastbare Integrität, sondern vielmehr von Verführbarkeit, Unsicherheit und Zweifel gezeichnet. Gerade aufgrund ihrer Schwächen aber erscheinen sie menschlich, was den Lesern oder Zuschauern jene Identifikation mit den Figuren ermöglicht, die für die orientierungsstiftende Leistung jeder Erzählung, der mythischen allzumal, unabdingbar ist.

Umgekehrt ist jedoch auch das "Böse", das als numinose Bedrohung in den vormals geordneten Kosmos der Fantasy-Welt einzubrechen scheint, nicht nur als eine archaische, unhintergehbare Größe vorgestellt, sondern wird in den jeweiligen Fantasy-Erzählungen in Gestalt von geradezu erschreckend modernen Herrschaftsformen konkretisiert: Hinter dem vormodernen Setting wie dem des Feudalismus, das Fantasy-Handlung gewöhnlich wählt, verbirgt sich eine eindringliche Kritik an Diktatur, Totalitarismus und Technokratie, wie sie erst die Moderne hervorbringen konnte - man denke etwa im Herrn der Ringe an die Züchtung der "Urukhai", kampfgesteuerter Halbmenschen, die im Film als Ineinander von Menschen- und Waffenschmiede inszeniert ist und Assoziationen an Allmachtsphantasien durch Genmanipulation und Gleichschaltung intendiert.

Religiöse Strukturen

Mit ihrer apokalypsegleichen Inszenierung der finalen Entscheidung zwischen einer meist in mythischer Vorzeit begründeten Heilsordnung, die es erneut zu errichten gilt, und dem endgültigen Sieg der Tyrannei des "Bösen" greift Fantasy religiöse Strukturen auf. Auch Religion setzt der alltäglichen Wirklichkeit kontrafaktische Züge entgegen, mit Gegenwelten wie beispielsweise der Vorstellung eines verheißenen Paradieses, das nach einer richtenden Endzeit anbricht. Deren Erfahrbarkeit ist in den Bereich des Imaginären - des Glaubens - verwiesen.

Die Handlungsorientierung, die Religion leisten will, ist von ihrem Selbstverständnis her nicht auf den Rahmen der Fiktionalität beschränkt, in dem sich das in der Fantasy inszenierte Geschehen bewegt, sondern wirkt auf die Realität der Gläubigen zurück. Denn anders als in den Erzählungen der Fantasy sind religiöse Vorstellungen von Transzendenz mit einem Wahrheitsanspruch verbunden, den Religion bzw. Theologie auch als solchen reflektiert. Fantasy hingegen agiert, trotz ihres bildenden oder orientierungsstiftenden Potentials, zweckfrei und versteht sich, hierin liegt der entscheidende Unterschied, in keiner Weise als Offenbarung.

Spielraum für Kreativität

Fantasy greift nicht nur in vielfacher Weise auf kulturelles Wissen wie die Erzählform des Märchens, das christliche Wertesystem und universale, überkulturelle Sinnstrukturen zurück, an das Leser und Zuschauer unmittelbar anknüpfen können. Wo das individualisierte und differenzierte Weltverständnis unserer pluralistischen Gesellschaften vielfach für Irritationen sorgt und das Bedürfnis nach einer unzweifelhaften Lesbarkeit der Zeichen weckt, bieten die Erzählungen der Fantasy eindeutige Lösungsstrategien an. Dass Fantasy dafür den Rahmen der Fiktion wählt, hält nicht nur das Bewusstsein für die Differenz zur Wirklichkeit wach, sondern schafft, allzumal in den interaktiven Formen der Fantasy wie dem Rollenspiel, auch Spielräume für Kreativität.

Die Autorin ist Theologin und Germanistin und wiss. Koordinatorin des Sonderforschungsbereichs "Erinnerungskulturen" an der Universität Gießen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung