Die Gefangenen der Moderne

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Wirtschaftlich gesehen, tragen sie zehn Prozent des BIP der Philippinen bei. Doch dabei werden ein Teil der neun Millionen Wanderarbeiter zu Arbeitsvieh und Prostituierten.

Trinidad Ramirez hatte nach eigenen Angaben großes Glück. Sie ist Haushaltshilfe gewesen in Saudi-Arabien: "Meine Arbeitgeber haben mich nicht schlecht behandelt, und vor allem mit dem in Saudi-Arabien konnte ich mich verständigen, denn er konnte Englisch“, erzählt sie. Ramirez ist eine Ausnahme. Sie war keine der sogenannten "Katalogfrauen“. Katalog heißt: Prostitution ist ein einkalkulierter Faktor. In jeder Hinsicht. Viele der im Ausland arbeitenden Philippinas erleiden physische und sexuelle Gewalt.

Trinidad Ramirez jedenfalls brauchte Geld, hätte in ihrer Heimat nur einen Bruchteil verdient. Und das verdiente Geld schickte sie - wie ein Großteil der philippinischen Wanderarbeiter - nach Hause.

Diese Überweisungen der Wanderarbeiter sind zum wichtigsten Devisenbringer der Philippinen geworden. Im Jahr 2009 waren es ca. 17,3 Milliarden US-Dollar; etwa ein Zehntel des Bruttosozialproduktes. Für zahlreiche Familien sind sie die Haupteinnahmequelle, für viele weitere ein wichtiger finanzieller Faktor. Werbeeinschaltungen von Banken und Geldinstituten, die diese Dienstleistungen anbieten, sind in den philippinischen Fernsehkanälen omnipräsent.

Wirtschaftsfaktor Wanderarbeit

Von den insgesamt etwa 9 Millionen philippinischen Overseas Workers - das sind rund ein Zehntel der Gesamtbevölkerung - leben und arbeiten derzeit knapp 3 Millionen in den USA; mehr als 1 Million in Saudi-Arabien, und auf dem "3. Platz“ folgt Kanada. Die Philippinen waren (nach 300 Jahren spanischer Kolonialherrschaft) knapp 50 Jahre lang bis zum Jahr 1945 eine Kolonie der USA. Englisch ist neben der Amtssprache Filipino weiterhin die Unterrichts- und Arbeitssprache auf den Philippinen; die guten Sprachkenntnisse verbessern die Jobmöglichkeiten im englischsprachigen Ausland. In mehr als 140 Ländern der Welt gibt es mehr oder weniger große philippinische Communities, unter anderem in Mexiko, Italien, Hong-Kong und Singapur. Aber präzise Angaben über die Anzahl jener, die einer legalen permanenten oder befristeten Arbeit nachgehen beziehungsweise illegal arbeiten, gibt es nicht; die Angaben schwanken stark.

Moderne Sklaverei oder Auslandsjobs auf freiwilliger Basis? Darüber im Einzelfall zu urteilen ist schwierig. Und um es noch komplizierter zu machen, gibt es auf den Philippinen das Konzept des "Utang na loob“. "Utang na loob“, das "In-der-Pflicht-stehen“ ist ein sozialer Aspekt, der das Ausmaß der Wanderarbeiter miterklärt, vor allem unter den weiblichen Arbeitsmigrantinnen. "Utang na loob“ ist eine traditionelle soziale Norm der gegenseitigen Verpflichtung und daraus resultierender Hilfsbereitschaft; es bezeichnet die kulturelle Pflicht der Frauen als Töchter, Ehefrauen und Mütter, ihre Familien nach Kräften - auch finanziell - zu unterstützen.

Die Schwester von Trinidad Ramirez aus der Ortschaft Real in einer unwegsamen Gegend der Philippinen hat einige Zeit in einer Fabrik in China gearbeitet. "Mehr als 12 Stunden pro Tag hat sie dort geschuftet“, erzählt die Schwester, die jetzt mit einem Teil ihres selbst im Ausland erwirtschafteten Geldes eine Ferkelzucht in unmittelbarer Nachbarschaft ihrer alten Eltern betreibt. "Irgendwann ist meine Schwester weggelaufen, hat es nicht mehr ausgehalten.“ Die Narben der glühenden Funken aus der Fabrik eines Autozulieferers auf der Haut der jüngeren Schwester wären heute noch zu sehen.

Zerrissene Familien

Unter den etwa 90 Millionen Einwohnern der mehr als 7.100 Inseln umfassenden Philippinen gibt es kaum jemanden, der nicht ein Familienmitglied im Ausland hat oder sogar selbst ein paar Jahre im Ausland verbracht hat. Sie arbeiten im Ausland als Haushaltshilfen, Krankenschwestern, Altenpflegerinnen und Prostituierte, als Arbeiter auf Baustellen, Ingenieure, IT-Experten, katholische Priester und Ärzte. 30 Prozent aller Seeleute dieser Welt stammen von den Philippinen.

"Mein Mann arbeitet in Kuwait auf einer Baustelle. Alle zwei Jahre kommt er für einen Monat nach Hause“, Neli Descaya lächelt sogar ein wenig, als sie das sagt. Und was sie sagt, das hört man auf den Philippinen überall. "Ich bin unseren Kindern Vater und Mutter gleichzeitig. Das ist hart. Für mich, für meine Kinder und für meinen Mann“, fährt Neli Descaya fort, während sie mir in ihrem Häuschen auf Talim-Island, dem der letzte Taifun das Dach weggerissen und die Fenster geborsten hat, Tee nachschenkt.

Im Internet finden sich unzählige Websites, die sich direkt auf die Wanderarbeiter beziehen: POEA, die Philippino Overseas Employment Administration zB., OWWA, die Overseas Workers Welfare Administration u.v.a. Sie informieren über die Rechte der Auslandsarbeiter, listen Stellenvermittlungs-agenturen und konkrete Jobangebote auf.

Jobangebote auf den Philippinen sind in schlechten Zeiten schwer zu finden, das ist einer der wirtschaftlichen Hintergründe des Phänomens der Overseas Workers. Zusätzlich lockt das oft höhere Einkommen für die gleiche Arbeit.

Arbeitskräfte-Mangel

Mehr als 2000 Pässe werden täglich auf den Philippinen ausgestellt. Am Flughafen von Manila gibt es in der Abflughalle eine eigene Lounge für "Overseas Workers“ und in der Ankunftshalle ein eigenes Welcome Desk. Durch die starke Arbeitsmigration sinkt die Anzahl der im Land verbliebenen Arbeitslosen. Das Fehlen qualifizierter Ärzte und Krankenschwestern wird allerdings vielerorts schmerzlich spürbar. Parallel dazu wachsen in den letzten Jahren Schulen und Institutionen quasi wie Pilze aus dem Boden, die eben diese im Ausland gefragten Krankenschwestern und AltenpflegerInnen ausbilden. Kaum ein Absolvent bleibt im Land. Laut Angaben der WHO, der Weltgesundheitsorganisation, "produziert“ und exportiert kein Land mehr medizinisch qualifiziertes Personal als die Philippinen. Ein herber sozialer und gesellschaftspolitischer Verlust für das Land.

Doch die Dollar-Milliarden, die alljährlich zurück auf die Philippinen überwiesen werden, überblenden alle diese negativen Aspekte der immensen Arbeitsmigration. Und sie mindern das Zahlungsbilanzdefizit des Landes, und damit den Druck auf die Regierung, die wirtschaftliche Lage des Landes nachhaltig zu verbessern.

Die Regierung erwägt die Wiedereinführung einer fünfprozentigen Einkommenssteuer für alle im Ausland beschäftigten Filipinos, um Geld in den Staatshaushalt fließen zu lassen. Dieses Vorhaben stößt bei den Betroffenen auf großen Widerstand.

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