"Die Glut ist noch da"

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Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Professorin für Religionsphilosophie an der TU Dresden, zur Frage nach der Identität Europas und seiner christlichen Prägung.

Die Furche: Wir sprechen über Europas Träume und Traumata. Bei Religion denken viele Menschen heute wohl eher an die traumatischen Erfahrungen der europäischen Geschichte, Träume für die Zukunft verbinden sich kaum mehr damit …

Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: Die europäische Geschichte hat im letzten Jahrhundert einen ungeheuren Einbruch erfahren: Zwei Weltkriege überlebt man, wenn überhaupt, nicht ohne gewaltige Wunden. Gerade der Erste Weltkrieg wird immer unterschätzt: das war im Grunde der Zusammenbruch Europas. Wir hatten zwei monströse Diktaturen - die braune kürzer, aber ungeheuer heftig, die rote fast 80 Jahre lang. Diese beiden Regimes sind, das scheint mir wichtig, ganz klar atheistische Regimes gewesen; auch die chinesische Kulturrevolution, die Millionen Tote gefordert hat, war ein atheistisches Projekt. Andererseits waren Religionen in den vorangegangenen Jahrhunderten selbst in blutige Kriege involviert. Die Aufklärung hat dem ein Ende gesetzt, und so konnte der Eindruck entstehen, man müsse nur die Religionen befrieden, dann wäre schon Friede. Das stimmt nur leider nicht. Dieses Bild von Religion hat allerdings durch die islamistischen Terrorakte der letzten Jahre für viele an Plausibilität gewonnen.

Die Furche: Was setzen Sie dem entgegen?

Gerl-Falkovitz: Die eigentliche Traumatisierung Europas geht sicher nicht (mehr) von den christlichen Konfessionen aus. Die zentrale Herausforderung Europas liegt nicht im Bereich der Religion, sondern im politischen Bereich: im Ausgleichen der großen Unterschiede zwischen alten und neuen Mitgliedsländern hinsichtlich wirtschaftlicher Entwicklung, Lebensstandard und dergleichen mehr.

Die Furche: Ist Europa noch ein christlicher Kontinent?

Gerl-Falkovitz: Von der kulturellen Prägung ist das ganz eindeutig der Fall. Es gibt heute noch vieles, das darauf hinweist - Romano Guardini hat einmal von den "Verbrennungsrückständen des Christentums" gesprochen; die Glut ist gewissermaßen noch da. Viele, die sich heute für humanistisch halten, wissen gar nicht, woher ihr Humanismus kommt: Er ist am Berg Sinai durch Mose entstanden und am Berg der Seligpreisungen durch Jesus. Aber ungeachtet dessen ist es wohl so, dass Europa heute der religiös am meisten stagnierende Kontinent ist.

Die Furche: Warum ist das so?

Gerl-Falkovitz: Ich halte das für eine Frucht des 20. Jahrhunderts. Kriege sind ein Auslöschen von Menschlichkeit, da wird etwas Fundamentales außer Kraft gesetzt. Und Ethik, christliche Ethik kann nur ungebrochen tradiert werden, nicht von einer in sich selbst gebrochenen Generation, wo der Vater oder die Mutter fehlt, wo - ich spreche jetzt von Deutschland - nach dem Krieg ungeheuerliche Demütigungserfahrungen gemacht worden sind: in Berlin etwa sind Zehntausende von Frauen vergewaltigt worden. Da gibt es keine nächste Generation, die heil daraus hervorgeht. Und das hat auch Folgen für die Weitergabe von Glauben. Den muss man durch diese Brechungen hindurch noch einmal ganz neu und heilsam formulieren. Das ist uns noch nicht gelungen.

Die Furche: Kann es so etwas wie eine Rechristianisierung Europas geben?

Gerl-Falkovitz: Eine Rechristianisierung ist klarerweise wünschenswert, wenn man damit nicht Ausschluss oder Diskriminierung Andersdenkender verbindet. Die Stärke des Christentums liegt ja in seiner Universalität. Es gehört zum Fundament des Christentums, dass es den Menschen nimmt, wie er ist, dass jeder Mensch zunächst einmal Mensch ist, ob er gläubig oder ungläubig ist. Das ist schon ein Zeichen großer Souveränität. Die zehn Gebote und die Bergpredigt richten sich nicht an die Gleichgesinnten, sondern sind universale Gebote.

Die Furche: Die Frage nach der Christlichkeit Europas hat eine starke Rolle bei der Diskussion um die europäische Verfassung und die Ausformulierung von deren Präambel gespielt. Was konnte man aus diesem Prozess und seinem vorläufigen Ergebnis lernen?

Gerl-Falkovitz: Es ist aufgrund der französischen Intervention dazu gekommen, dass man zum Kulturbesitz Europas zwar die Griechen rechnet und die Römer und dann die Aufklärung bzw. die Französische Revolution, dazwischen aber 1800 Jahre ausgelassen hat. Offensichtlich war es da stockfinster und ist überhaupt nichts passiert. Dezidiert ausgespart wird also der größte Kulturschub, den wir hatten: die Integration des Griechischen, des Römischen und des Jüdischen durch das Christentum.

Die Furche: Hätte es genügt, die jüdisch-christliche Tradition ausdrücklich zu benennen - oder hätten Sie sich auch so etwas wie eine Invocatio Dei (Anrufung Gottes) gewünscht?

Gerl-Falkovitz: Ich hätte mir beides gewünscht. Ersteres wäre einfach eine Sache der historischen Redlichkeit gewesen. Eine Invocatio Dei hielte ich aus Geschichts- und Glaubensgründen für sinnvoll. Es sollte uns zumindest nachdenklich stimmen, dass es in den beiden mörderischen Systemen des 20. Jahrhunderts eine ausgesprochene Verachtung des Gottesglaubens gegeben hat.

Die Furche: Aber die Anrufung oder Nennung des Gottesnamens schützt auch nicht vor Barbarei …

Gerl-Falkovitz: Das stimmt zweifellos. Aber die Nicht-Anrufung ist ein Indiz dafür, dass man offensichtlich an eine Menschlichkeit glaubt, deren Zerbrechlichkeit man noch nicht durchschaut hat.

Die Furche: Das entscheidende Gegenargument lautet, dass man mit einer ausdrücklichen Nennung Gottes Agnostiker und Atheisten nicht respektieren würde, dass diese sich nicht von einer solchen Präambel angesprochen fühlen könnten.

Gerl-Falkovitz: Ich denke, dass eine Invocatio Dei niemanden ausschließt. Man kann sie ja auch als Formel einer überstaatlichen Gerechtigkeit empfinden, auch wenn man selbst nicht an einen persönlichen Gott glaubt. Es wäre ein Verweis darauf, dass es über die Gesetze hinaus noch eine Art vorstaatliches Recht gibt. Das kann auch ein Ungläubiger realisieren.

Die Furche: Der Grazer Bischof Egon Kapellari hat von der "Humanitätssicherung" als Aufgabe für Europa gesprochen. Was kann das Christentum dazu beitragen?

Gerl-Falkovitz: Das Christentum spricht in einer Weise von Vergebung, die nicht nur die psychische Beruhigung meint, auch nicht nur ein Ausdruck politischen guten Willens ist - was keineswegs zu verachten ist -, sondern die auch die Täter erreicht, selbst solche, die bereits tot sind. Die Frage ist immer: Wie gehen wir als Nachgeborene mit der Vergangenheit um? Das kann nicht nur in der Weise der viel strapazierten "Aufarbeitung" geschehen; das Christentum hat als zentrale Botschaft, dass es Vergebung auch für die Henker und Mörder geben kann, die Verzeihung des Unverzeihlichen jenseits unserer beschränkten menschlichen Möglichkeiten. Ein zweiter Aspekt lehnt sich an Jürgen Habermas an: Wir können mit den Opfern nicht umgehen, weil sie schlicht unerreichbar für uns sind. Der Gedanke der Auferstehung ist die einzige Möglichkeit, um Ungerechtigkeiten, die wir hier nicht lösen können, sinnvoll zu beantworten. Hans Maier (ehemaliger bayerischer Kultusminister; Anm.) hat einmal gesagt, eine Geschichte ohne Finale ist viel schrecklicher als eine Geschichte mit Finale.

Die Furche: Viele meinen, dass in Europa einem sehr vitalen, auch kämpferischen Islam ein müdes, lasch gewordenes Christentum gegenübersteht. Wie soll Europa mit dieser islamischen Herausforderung umgehen?

Gerl-Falkovitz: Das eine ist, dass muslimische Europäer auf politisch-rechtlicher Ebene sich in derselben Rechts- und Chancensphäre bewegen müssen und dürfen wie alle anderen. Es kann nicht angehen, dass wir - wie das in Deutschland bereits unter der Hand passiert - unter dem Vorwand eines Kulturalismus plurale Rechtsformen einführen; dass also etwa Ehrenmorde nur als Totschlag gelten oder Frauen geprügelt werden dürfen, weil der kulturelle Hintergrund als taterleichternd gilt. Etwas anderes ist die religiös-kulturelle Ebene - die geht den Staat nichts an. Hier sind Christen und Muslime gefordert, im Gespräch ihre Sichtweisen zu diskutieren. Da würde ich mir allerdings für beide Seiten wünschen, dass sie aus dem unverbindlichen Einander-Umschleichen heraustreten.

Die Furche: Für wie anschlussfähig an die moderne Welt halten Sie den Islam generell?

Gerl-Falkovitz: Ich denke, dass die Muslime eine äußerst schwierige Phase vor sich haben - vor allem, was ihre heilige Schrift betrifft. Da steht eine Aufklärungsphase bevor, die vermutlich viel heftiger wird, als sie bei uns war: weil es keine Erlösergestalt gibt, sondern einfach das Buch. Und dass es bei diesem Buch, das als verbal inspiriert, Wort für Wort von Allah diktiert gilt, plötzlich differente Lesarten geben soll, das wird eine ziemliche Erschütterung auslösen.

Die Furche: Dieser Läuterungsprozess ist ja im Christentum auch nicht ohne Schmerzen vor sich gegangen …

Gerl-Falkovitz: Nein, aber der Unterschied ist: Die Wörtlichkeit der Evangelien kann ich zur Disposition stellen, ohne die Gestalt Jesu zu verlieren. Die Mitte des Christentums ist eine Gestalt, kein Buch. Aber man kann den Koran nicht entschärfen, ohne ihn als Wort Gottes zu relativieren. Der Koran hat ja einen anderen Stellenwert als die Bibel - der Koran ist die Mitte des Islam selbst.

Die Furche: Wie stehen Sie zu einem EU-Beitritt der Türkei?

Gerl-Falkovitz: Auf säkularer Ebene sehe ich einfach nicht, dass die Türkei die Standards für einen Beitritt erfüllen würde. Da geht es nicht um einen Unterschied wie zwischen Portugal und Polen - sondern um eine lebensweltliche Differenz, z. B. in der Einschränkung der Frauenrechte. Auf der Ebene der Religion stört mich sehr, dass vonseiten der Türkei das abwertende Wort vom "Christenclub" ins Spiel gebracht wurde: als ob Europa ein religiös-kulturell homogenes Gebilde wäre, das durch einen Beitritt der Türkei aufgebrochen werden müsste. Ebenso stört mich, dass es nicht im Geringsten eine Gegenseitigkeit bei der Religionsfreiheit gibt. "Islamisches Land" heißt hier: Ausschluss Andersgläubiger; und insofern entspricht die Türkei nicht europäischen Standards, das ist keine offene Gesellschaft.

Das Gespräch führte Rudolf Mitlöhner.

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