Die Grenzen der Moderne

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Warum es lohnt, den Politologen Eric Voegelin wiederzuentdecken: Ein Denker wider den intellektuellen | Mainstream der Beliebigkeit, gegen den Gnostizismus in seinen vielfältigen Erscheinungsformen.

Der aus Österreich von den Nazis vertriebene Wissenschafter Eric Voegelin gehört neben Leo Strauss wohl zu den wichtigsten konservativen Gesellschafts- und Politiktheoretikern des 20. Jahrhunderts. Sein umfangreiches, insgesamt 34 Bände umfassendes Werk - jetzt erstmals mit dem Schlüsselessay "Realitätsfinsternis" auf Deutsch erschienen - ist im Innersten von der Absicht getragen, die Politik neu zu begründen und den Menschen aus den Fängen sozialistischer und sonstiger gesellschaftspolitischer Heilsutopien zu befreien. Im Zentrum von Voegelins Werk steht sein Wunsch, Politik und Wissenschaft in Theorie und Praxis zu erneuern. Politik wird dabei nicht auf Tagespolitik oder machiavellistisches Machtstreben reduziert, sondern umfassend als Herstellung von Ordnung im menschlichen Zusammenleben verstanden. Voraussetzung für das Schaffen von Ordnung ist ein realistisches Menschenbild, das in der Einsicht besteht, "dass der Mensch an allen Seinsbereichen, vom anorganischen bis zum geistigen, teilhat". Ein solches Bild kann der Mensch für Voegelin nur in der Rückbindung an Gott entwickeln.

Drei intellektuelle Durchbrüche

In der Menschheitsgeschichte gab es drei intellektuelle Durchbrüche zu einem vertieften Verständnis des menschlichen Lebens: Zuerst entdeckten die Juden die Bewusstwerdung der menschlichen Existenz unter Gott, dann wurde im antiken Griechenland die menschliche Seele als "Sensorium der Transzendenz" entdeckt, und schließlich erfuhr die Menschheit durch den Tod Jesu die tiefe Erfahrung der wechselseitigen Beziehung mit Gott. Hier offenbarte sich das fleischgewordene Wort und vertiefte die Freundschaft zwischen Mensch und Gott. Erst dieses Menschenbild ebnete den Weg aus der Sklaverei und für die Menschenrechte.

Von dieser Dualität zwischen Gott und Mensch hat sich die Menschheit durch Aufklärung und Säkularisierung entfernt - mit tragischen Folgen. Die Entgötterung der Welt hat zu einem intellektuellen Vakuum geführt, das der aufgeklärte Mensch mit politischen Heilslehren und Sinn füllen wollte. Der Gnostizismus in seinen innerweltlichen Spielarten des Progressivismus, Szientismus und Positivismus verstößt das weltjenseitige Absolute und zerrt es ins Diesseits. Mit verheerenden Folgen, wie uns die zwei Weltkriege des 20. Jahrhunderts, aber auch die jüngsten Genozide in Ruanda und Bosnien zeigten. Die Verabsolutierung des Menschen (Nietzsche, Hegel, Comte), des Staates (Hobbes) und der Geschichte (Marx) bildet das Fundament für die Entstehung der totalitären Regime des Faschismus, des Nationalsozialismus und des Kommunismus. Der Mensch kann sich eben nicht selbst erlösen, und für Voegelin hat die Gott- und Seinsvergessenheit des modernen Menschen jenseits von Kriegen noch viel schlimmere Folgen für Verstand und Seelenheil des einzelnen Menschen. So ahnen etwa politisch korrekte Moralisierer meist nicht, "dass die Säkularisierung des Lebens [?] eben der Boden ist, auf dem antichristliche religiöse Bewegungen wie der Nationalsozialismus erst wachsen konnten".

Nur das Zeitalter der Säkularisierung konnte für Voegelin ein ganzes Bündel von Neologismen wie Optimismus, Pessimismus, Altruismus, Egomanie, Monomanie erfinden - der auf sich selbst zurückgeworfene Mensch flüchtet in die Parallelwelten von Hedonismus, Eventkultur und Konsumgesellschaft und/oder politische Ersatzreligionen wie Gender Mainstreaming und Klimaschutz. Diese postmoderne menschliche Existenz nennt Voegelin "geschrumpftes oder kontrahiertes Selbst".

Progressive Sozialingenieure

Für dieses kontrahierte Selbst ist die Gegenwart nur mehr die verzweifelte Flucht aus der nicht wesenhaften Faktizität des Selbst auf das hin, was es nicht ist. Doch der moderne Mensch, der von sich nicht mehr als Mensch, sondern als Ego spricht, hört nicht auf, Mensch zu sein, weshalb es für Voegelin zwangsläufig zu Spannungen zwischen dem geschrumpften Selbst und der Realität kommt.

Die intellektuellen Mühen für die Leser dieses hochtheoretischen Essays lohnen sich zweifellos: Man spürt, wo die argumentativ blinden Flecken von Aufklärung, Positivismus, Ökologismus und dem jeweils letzten argumentativen dernier cri der scheinbar niemals versiegenden Theorieemanationen der progressiven Sozialingenieure liegen.

Realitätsfinsternis

Von Eric Voegelin

Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2010

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