Die größte Demokratie wählt

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Am 16. April startet in Indien ein vierwöchiger Urnengang. Mehr Wahlberechtigte als überall sonst können in 830.000 Wahllokalen ihre Stimme abgeben - und eine Sensation auslösen.

Die Terroranschläge in Mumbai, im November 2008, hätten gemeinsam mit der Wirtschaftskrise gute Wahlkampfthemen abgegeben. In Indien ticken Wahlkämpfe aber anders. Kurz nach den Vorfällen in Mumbai wurde im Bundesstaat Rajasthan, der an Pakistan grenzt, gewählt. Der Terror wurde dort zwar von Parteien teilweise thematisiert, eine Rolle spielte er aber kaum: Laut dem indischen Magazin Economic & Political Weekly hatten 46 Prozent der Wähler noch nicht einmal von den Anschlägen gehört.

Wenn die größte Demokratie der Welt wählt, dann werden aktuelle Themen wie Terror, oder auch die Wirtschaftskrise beinahe ausgeklammert. Indiens Wirtschaftswachstum wird laut Prognosen des IWF von jährlichen 9 auf 5,6 Prozent schrumpfen, tausende Arbeitsplätze sind schon verloren gegangen. Aber die 700 Millionen Wähler treffen ihre Wahlentscheidungen auf ganz anderer Basis: Wegen des Mehrheitswahlrechts werden in den 28 Staaten mit ihren 543 Wahlkreisen Kandidaten ins Rennen geschickt, die möglichst der dort vorherrschenden Kaste oder Religion entsprechen. So ist Indiens Politik in einem großen Ausmaß von regionalen Interessen sowie religiöser und kastenspezifischer Klientelpolitik geprägt. Große Parteien müssen mit einer Vielzahl an Parteien, die oft nur kleine Regionen oder Minderheiten repräsentieren, auf nationaler Ebene ein Bündnis bilden. Kleine Mehrheitsbeschaffer, die oft nur einen Abgeordneten stellen, werden so zum Zünglein an der Waage und haben einen unverhältnismäßig großen Einfluss.

Der amtierende Premier, Manmohan Singh, wird von der traditionsreichen Kongresspartei gestellt, die sich in den Händen des Gandhi-Clans befindet. Die Kongresspartei, entstanden aus Indiens Unabhängigkeitsbewegung, war über Jahrzehnte die dominante Kraft im Land. Ihr letzter Sieg bei den Wahlen 2004 war jedoch ein zweifelhafter: Mit nur 145 von 543 Sitzen im indischen Parlament Lok Sabha musste die Kongresspartei ein breites Parteienbündnis, die "United Progressive Alliance", bilden, um eine regierungsfähige Mehrheit zu stellen.

Kongresspartei bleibt Garant für ein Indien

Der gesundheitlich angeschlagene, doch populäre Singh geht als Spitzenkandidat für die Kongresspartei ins Rennen. Zum Missfallen der Koalitionspartner will sie aber nicht gemeinsam mit den Regionalparteien ihres Regierungsbündnisses, der Progressiven Allianz, antreten. In sozialen Fragen wie der Armutsbekämpfung wird der Kongresspartei zudem Versagen angelastet. Korruption und das dynastische Element der hochgehaltenen Gandhi-Tradition sind anderen ein Dorn im Auge. Ein Machtwechsel wäre demnach möglich. Allerdings ist das Vertrauen in die Kongresspartei trotz aller Kritik in weiten Kreisen ungebrochen. Für viele ist sie nach wie vor Garant für ein geeintes und säkulares Indien.

Die ersten Wahlgänge beginnen am 16. April, in den letzten Wahlkreisen wird am 13. Mai gewählt; das Wahlergebnis wird drei Tage später bekannt gegeben. Insgesamt gibt es in den vier Wochen fünf Wahltage, an denen jeweils verschiedene Regionen an die Urnen gerufen sind. Die Anzahl der Wahllokale ist im Vergleich zu 2004 um ein Fünftel gestiegen, damit auch Menschen aus abgelegenen Gegenden in einem der 830.000 Wahllokale ihre Stimme abgeben können. Die Aufteilung auf die fünf Tage mit ihren Wahlzonen hat aber auch logistische Gründe: Der Personalbedarf bei Wahlen ist groß und eine teilweise labile Sicherheitssituation verlangt entsprechende Ressourcen.

Muslimen-Hetze als Wahlstrategie

Für Meinungsforscher ist Indien ein schwieriges Pflaster. Bei den letzten Wahlen lagen die Umfragewerte meist weit neben den Ergebnissen. Die überwiegende Mehrheit der indischen Wähler kommt aus ländlichen Regionen, die von Meinungsforschern kaum erreicht werden. Deswegen befragt man vorrangig städtische Mittelschichten. Deren politische Präferenzen sehen aber deutlich anders aus.

Während Mitglieder der Oberschichten den Wahlurnen zunehmend fern bleiben, haben Indiens Aufsteiger eine steigende Präferenz für die hindu-nationalistische Bharatiya Janata Party (BJP). Neben religiösen Fundamentalismus bietet sie mit dem von ihr regierten Bundesstaat Gujarat auch eine wirtschaftlich erfolgreiche Modellregion als Vorbild. Der prominente BJP-Führer Narendra Modi, Chefminister in Gujarat, hat ein offenes Ohr für die Wünsche von Großinvestoren. Der reiche Bundesstaat gilt in vielen Bereichen als mustergültig: Modi wird eine erfolgreiche, neoliberal orientierte Wirtschaftspolitik nachgesagt. Sein Einsatz für erneuerbare Energie lässt wiederum Umweltschützer gerne in das gut verwaltete Land schielen.

Die Pogrome gegen Muslime, für die der Hindufaschist Modi mit verantwortlich gemacht wird, sind jedoch immer noch in deutlicher Erinnerung. Säkulare Kräfte lehnen deswegen eine Zusammenarbeit mit der BJP ab. Zwar gelang es der Partei, die auch schon den Premierminister stellte, mit Varun Gandhi ein Mitglied des Gandhi-Clans für sich zu gewinnen. Genau der könnte aber jetzt zum Problem werden. Er wurde vorübergehend festgenommen, da er gegen Muslime hetzte. Eine Radikalisierung, die den gemäßigten Mittelschichten missfällt, die man mit Varuns Kandidatur ansprechen wollte. BJP-Spitzenkandidat L. K. Advani ist zudem 81 Jahre alt. Fünf Jahre älter als Singh.

Unberührbare greifen nach der Macht

Indiens Wahlen werden aber nicht von urbanen Mittelschichten oder Aufsteigern entschieden. Von der Dynamik, die das Land in den letzten Jahren erfasst hat, profitieren bei Weitem nicht alle. Ganz unten in der Gesellschaft stehen nach wie vor Indiens Unberührbare, die Dalits. Mit 250 Millionen stellen sie fast ein Viertel der Bevölkerung. Trotz mancher Förderungs- und Bildungsprogramme bleiben sie in der Außenseiterrolle. Um ihrem Status zu entgehen, konvertieren Dalits auch zu anderen Religionen. Richtigen Schutz bietet das aber nicht, wie die Übergriffe auf Christen in Orissa zeigen.

Nun kandidiert mit Mayawati Kumari eine von "ihnen". Sie regiert im armen, aber durch seine Größe wichtigen Bundesstaat Uttar Pradesh. Ihre Partei, die Bahujan Samaj Party (BSP) schafft es auch, Muslime und die privilegierten Brahmanen zu integrieren. Auch in anderen Bundesstaaten konnte die BSP bereits Achtungserfolge feiern. Rund um Barack Obamas Wahlsieg wurden gern Parallelen zu Mayawati gezogen. Die Aussicht, eine Dalit als Premierministerin zu haben, weckt Hoffnungen, die starre Gesellschaftsordnung zu überwinden.

Obama-Effekt auch in Indien?

Eine Dalit-Frau als Premierministerin wäre eine Sensation. Für echte Aufbruchstimmung, wie bei Obama in den USA, fehlt Mayawati aber die Glaubwürdigkeit. In dem von ihr regierten Bundesstaat konnte sie noch keine großen Regierungserfolge erzielen. Viel mehr Schlagzeilen machen Korruptionsvorwürfe. Das allein ist noch keine Besonderheit in Indiens Politik. Bei Kumari kommen aber noch ihre Vorliebe für Juwelen und ihr Reichtum, der sie zur größten Steuerzahlerin unter Indiens Politikern macht, dazu. All das zusammen kratzt schwer an ihrem Image.

Bei empfindlichen Verlusten der Kongresspartei und der BJP hat sie jedoch Chancen, als erste Unberührbare Premierministerin zu werden. Eine Vielzahl an linken, säkularen und regionalen Parteien formierten sich bereits zur "Third Front", die in diesem Fall als Mehrheitsbeschafferin für Mayawati dienen könnte. Noch hält sich die BSP bedeckt und will sich vor den Wahlen auf keine möglichen Allianzen festlegen. Das ist in Indien ungewöhnlich. Dazu gibt es auch Spekulationen, dass Mayawati bei diesen Wahlen noch erst einmal ihre Wählerbasis ausweiten will. Bis nur nächsten Wahl 2014 hätte sie dann genug Zeit, politische Vorzeigeprojekte zu entwickeln.

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