Die Herrschaft der Angst

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Die irrationalen Anteile unserer angeblich so durchrationalisierten Zeit sind enorm hoch.

O h my God", antwortete New Yorks Noch-Bürgermeister Rudolph Giuliani auf die Frage, was sein erster Gedanke gewesen sei, als er von dem Flugzeugabsturz erfahren habe.

"O Gott", "Nein", "Nicht schon wieder" - das ist uns allen durch Herz und Hirn geschossen, als wir am Montag "Flugzeugabsturz" und "New York" hörten. Dass die Nerven seit dem 11. September nicht nur in den USA blank liegen, ist mittlerweile eine Binsenweisheit. Am Montag wurde sozusagen die Probe aufs Exempel gemacht. Ein zynisches Schicksal könnte befriedigt nicken: Jawohl, die Reflexe funktionieren perfekt. Ein globaler Aufschrei, Panik, die Börsen reagierten dementsprechend.

Die Börsen: Sie sind der Seismograph der modernen Welt, Sinnbild unserer Labilität, unseres Schwankens zwischen "himmelhochjauchzend" und "zu Tode betrübt", unserer Verwundbarkeit wie unseres Hangs zu bedenkenloser Euphorie. Sympathisch macht sie nicht zuletzt, dass sie uns immer wieder so schön vor Augen führen, wie hoch die irrationalen Anteile unserer angeblich so durchrationalisierten Zeit sind, sein müssen, weil der Mensch als animal irrationale nicht zu umgehen ist.

Die Kurse purzelten freilich nur kurz - mit Ausnahme von Fluglinien und mit der Luftfahrt in Zusammenhang stehenden Unternehmen: Es war ja, so sieht es aus, "nur" ein Unfall "Nur ein Unfall", sagen wir, und in unseren Blicken spiegelt sich Erleichterung, in die sich ein Anflug von Sorge und Zweifel mischt: Was, wenn es doch wieder ...? Nein, wir wollen glauben, dass es ein ganz normales Flugzeugunglück war - so wie wir das aus früheren Zeiten kannten, als es einfach "menschliches Versagen" und/oder "technisches Gebrechen" hieß.

Solche Risken hatten wir bereits integriert. Doch auch das haben wir erst lernen müssen: dass High Tech und high risk Hand in Hand gehen. Die Menschheitsgeschichte lässt sich auch lesen als Abfolge von Zäsuren, wobei zweifellos die Markierungen auf den letzten Zentimetern des Zeitstreifens enorm dicht gesetzt sind. Dennoch verbietet dieser Blick, ein Ereignis als den Einschnitt zu sehen, der alles verändert habe.

Ein Phänomen, an dem sich das exemplarisch studieren lässt, ist die Globalisierung. Es gibt auch hier keinen "Sündenfall", der eine paradiesische von einer strukturell böse-gewalttätigen Zeit unterschiede. Globalisierung ist nichts anderes, als das uralte Menschheitsprinzip freien Handels unter den Bedingungen von weltweiter Vernetzung, die raumzeitliche Kategorien vielfach aufhebt. Zuletzt versuchte die WTO (World Trade Organisation) bei ihrer Konferenz im Golfemirat Katar, eine neue Liberalisierungsrunde im Welthandel einzuläuten. Mangels spektakulären Antiglobalisierungsaktionismus', der solche und ähnliche Veranstaltungen in den letzten Jahren stets begleitete, fand das Treffen so gut wie unter Ausschluss der Weltöffentlichkeit statt: Die Wirkung von Bildern tagender Handelsminister ist endenwollend.

Symbolisch ist in diesen Tagen der Ort der Veranstaltung: Ist Katar doch die Heimat von Al Jazeera, jenem arabischen TV-Sender, der sich seit dem Beginn der US-Vergeltungsschläge als Korrektiv zu CNN erwiesen hat und somit gewissermaßen global etabliert ist.

"Jetzt müssen wir, mehr denn je, den Rufen nach einer Rückkehr zum Protektionismus widerstehen": Der Aufruf kam nicht von einem Vertreter der Industrieländer, das war die Botschaft zum Auftakt der WTO-Tagung von UNO-Generalsekretär Kofi Annan. Dafür hat er sich Applaus verdient, denn Konjunktur hat, seit dem Fall des World Trade Centers zumal, eher die gegenteilige Position: Abschottung und Sicherheit haben Priorität vor Öffnung und Freiheit.

Natürlich ist es nicht so einfach: Freiheit schlägt ohne ein bestimmtes Maß an Sicherheit um in ihr Gegenteil, Sicherheit ermöglicht erst Freiheit. Aber eine Umkehr der Rangordnung von Freiheit und Sicherheit bedeutete den Triumph von Bin Laden & Co. Deswegen also gilt es jetzt - "mehr denn je" - eine Rückkehr zum Protektionismus zu verhindern. Und natürlich auch deswegen, weil sie niemandem helfen würde, am wenigsten den armen Ländern selbst.

In Zeiten, da die Angst regiert, verschafft sich die Stimme der Vernunft freilich schwer Gehör. Sie kann auch gar nicht auf dieselben Mittel zurückgreifen, es sei denn um den Preis ihrer Selbstaufgabe. Damit sind wir schon fast bei Temelín und der österreichischen Innenpolitik angekommen. Aber das ist eine andere Geschichte.

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